Die verlorene Klasse Interview mit Hans-Günter Thien über die Arbeiterklasse

Seit Helmut Schelsky mit seiner Theorie der nivellierten Mittelstandsgesellschaft wird die Unhaltbarkeit der marxschen Klassentheorie für moderne Zustände propagiert. Gleichwohl feiert der Begriff „Klasse” ein kleines Comeback im öffentlichen Diskurs, in der Gesellschaftswissenschaft und in der Realität. Ein Interview über den marxschen Klassenbegriff mit Hans Günter Thien, der unlängst zum Thema jeweils ein Buch veröffentlicht und herausgegeben hat.

Um die Zeit der Veröffentlichung von Marx' Gespenster saß ich bei Diedrich Diederichsen in einem Seminar der Münchener Akademie der Künste, in dem ein Interview mit Jacques Derrida gelesen wurde, worin der französische Meisterdenker die Sozialkategorie „Klasse” als ontotheoteleologischen Begriff bezeichnet hatte, worauf ich mich bemüßigt fand, zu fragen, was denn daran ontotheoteleologisch sei. Daraufhin antwortete mir der Seminarleiter sinngemäß: Die Klassengesellschaft gibt es nicht mehr, das hat die Existenz von Managern mittlerweile hinlänglich bewiesen. Da war ich sprachlos. Herr Thien, was wäre denn ihr Kommentar zu der diederichsschen Replik gewesen?

Hans-Günter Thien: Die Antwort von Diedrich Diederichsen überrascht mich, hatte ich doch bisher angenommen, dass dieser einigermaßen informiert und reflektiert sei. Dass er nun eines der schwächsten Gegenargumente aus der Vielzahl eines Arsenals von Widerlegungen einer Klassentheorie benutzt, spricht nicht gerade für seine Vertrautheit mit der Problematik. Kurz: Der Sachverhalt, dass innerhalb eines Verhältnisses, das auch noch in Bewegung ist, eine Position an Bedeutung gewinnt (Manager) belegt die Veränderung des Verhältnisses, aber doch nicht seine Verabschiedung. Ansonsten mögen sich solche „Meisterdenker” weiterhin mit diversen Auslegungen ontotheoteleologischer Begriffe vergnügen, was immer das auch sei.

Das, was in der marxschen Klassenanalyse erkannt werden soll, nämlich die Klasse der Mehrwert produzierenden Lohnarbeiter ist selbst etwas im Erkenntnisprozess Befindliches und gleichzeitig auch noch Subjekt und Objekt. Ist das die grundlegende Schwierigkeit, die vielen auch kritischen Soziologen den Zugang zu Marx verbaut? Und ist das nicht gleichzeitig ein gewichtiges Gegenargument zu der These, dass die Lohnabhängigen mit der Globalisierung den Kampf mit den Arbeitgebern endgültig verloren hätten?

Hans-Günter Thien: Ja, so könnte man das zusammenfassend bezeichnen. Unter der dinglichen Hülle (dem Warenverhältnis) verbirgt sich ein gesellschaftliches Verhältnis von Personen (Klassenindividuen), das durch den Prozess des Verhältnisses, also letztlich durch das Tun der Beteiligten in Konstanz und Bewegung gehalten wird. Die konkrete Ausprägung des Verhältnisses und die jeweilige Art der Kooperation zwischen ihnen (die Klassenzusammensetzung) sowie die aktuellen und historischen Erfahrungen machen sich auch in Auseinandersetzungen und im Kampf geltend. Die Kategorie „Endgültig” hilft dabei nicht weiter.

Heutzutage wird die marxsche Analyse der Klassengesellschaft pausenlos mit den nur bedingt wissenschaftlich zu nennenden Prophezeiungen aus dem „Manifest der kommunistischen Partei” verwechselt. Können Sie die Nachteile benennen, die aus dieser fatalen Verwechslung erwachsen? Gibt es ihrer Ansicht nach eine „historische Mission der Arbeiterklasse”?

Hans-Günter Thien: Das „Manifest” war und ist eine Kampfschrift, die ihren Zweck erfüllt hat, nämlich Menschen, die in den Prozess der kapitalistischen Entwicklung geworfen worden sind, anzusprechen und aufzurütteln, dass sie sich gegen diese Unterwerfung auflehnen und in Kooperation miteinander selbstbestimmt über ihr Leben bestimmen. Das Manifest sollte allerdings nicht verwechselt werden mit einer wissenschaftlichen Analyse ebendieser Entwicklung.
Die in ihm auch enthaltene Vorstellung von einer „historischen Mission der Arbeiterklasse” ist meines Erachtens missverständlich und falsch, da sie den konkreten Arbeiterinnen und Arbeitern immer wieder als von außen gesetztes Ziel verordnet wurde, dem sie zu folgen hätten. Dem liegt ein mechanischer Materialismus zugrunde, der das Handeln von Menschen einer vorgeordneten „Geschichte” und ihren vorgeblichen Gesetzmäßigkeiten unterordnet. Ein eigentümlicher Widerspruch zwischen der Vorstellung einer von Menschen gemachten Geschichte, die gleichzeitig über sie hinwegrollt.

Welchen analytischen Vorteil besitzt wiederum ihrer Meinung nach der marxsche Klassenbegriff im Vergleich zur Individualisierungsthese von Ulrich Beck oder dem Theorem Helmut Schelskys von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft”?

Hans-Günter Thien: In aller Kürze: Beck wie schon Schelsky begnügen sich letztendlich mit der Zusammenstellung von veränderten Phänomenen, die sie in ihre theoretischen Schemata einpassen, ohne den gesellschaftlichen Zusammenhang in seiner historischen Entwicklung adäquat aufzunehmen. Genau das ermöglicht die Aufnahme und Ausarbeitung des Marxschen Klassenbegriffs: Einen Strukturzusammenhang in seinem Kern und seiner Ausfaltung als Moment eines immer schon historischen Reproduktionszusammenhangs von Personen zu entschlüsseln.

Nach Moishe Postone ist der Kern der marxschen Analyse der auf das Wertgesetz basierenden kapitalistische Wirtschaftsform, dass mit dem Kapital auch die abstrakte Arbeit zu einer unpersönlichen, über Sachen vermittelte Herrschaftsform wird, die wiederum die Grundlage zu ihrer eigenen Abschaffung bildet. Stimmen Sie hier mit Postone überein?

Hans-Günter Thien: Die prominent von Moishe Postone vertretene Position der Bedeutung des Wertgesetzes, die neben ihm ja bekanntlich von vielen anderen vertreten wird (zum Beispiel von Michael Heinrich), scheint mir richtig. Aber statt nun seit über 20 Jahren immer wieder diesen Zusammenhang zu wiederholen, scheinen mir in Bezug auf die angefragte „Grundlage zu ihrer eigenen Abschaffung” erhebliche Erweiterungen nötig, die man ein wenig vereinfacht als Einbeziehung der Empirie im weitesten Sinne bezeichnen kann. Das heißt die Transformationen der Produktionsprozesse, die Veränderung der technischen wie organischen Zusammensetzung des Kapitals, also all das, was man häufig pauschal als „Globalisierung” bezeichnet, ist in seiner Bedeutung für die Klassenindividuen und Personengruppen aufzunehmen. Kurz gesagt wären das die oben angesprochenen Neuzusammensetzungen im Prozess der Kapitalreproduktion.

Die amerikanische Soziologin Beverly Silver hat in ihrer historischen Untersuchung Forces of Labor. Globalisierung und Arbeiterbewegungen seit 1870 herausgearbeitet, dass die Marktmacht der Arbeiter abnehmen kann, während ihre Produktions- und Organisationsmacht unter der Hand zunimmt.
Aufgrund ihrer aparten Stellung im Produktionsprozess sind die Arbeiter nämlich nicht nur Variablen, sondern auch Subjekte der kapitalistischen Wertschöpfung. Mit jeder Umwälzung einer Produktionsmethode, welche die alten Formen von Arbeitermacht untergräbt, wachsen neue Formen von Widerstandsvermögen nach, für welche das Kapital im Grunde noch anfälliger ist als vorher.
Wie zum Beispiel der Streik der Lokomotivführergewerkschaft GDL vor einigen Jahren bewiesen hat, können tatsächlich auch wenige, aber gut organisierte Arbeitnehmer eine machtvolle Position bei Tarifauseinandersetzungen einnehmen. Warum wird diese bislang immer von Erfolg gekrönte Auseinandersetzungsweise mit den Arbeitgebern von den anderen Gewerkschaften so selten beherzigt?


Hans-Günter Thien: Die Untersuchung von Beverly Silver halte ich für eine der interessantesten der letzten Jahre in diesem Feld. Aber ihr ist auch ein gewisser Schematismus eigen, wie er mir auch in der Frage gegeben scheint. Wie die Ereignisse in China, das ja zu Recht ein bevorzugtes Untersuchungsgebiet von Silver ist, zeigen, kommt es auch auf die jeweiligen Besonderheiten der Produktion und der Lage der jeweiligen Arbeiter an (zum Beispiel auf die Organisation von Wanderarbeitern); ich würde hier also zurückhaltend sein bei der Rede von „dem” Kapital und „den” Arbeitern, die Subjekte zu werden scheinen; es handelt sich um konkrete Einzelkapitale und eine besondere Gruppe von Arbeitern.
Das gilt auch für den angesprochenen Streik der GDL, die eine besondere Situation gezielt für sich genutzt hat. Inwieweit daraus eine Verallgemeinerung folgen könnte beziehungsweise warum sie sich nicht ergeben hat, dazu müsste man nicht zuletzt das Verhältnis zwischen der GDL und den anderen Einzelgewerkschaften befragen. Dabei hätte man selbstverständlich auch die bisherige Art und Weise der Eingebundenheit bundesdeutscher Gewerkschaften in den gesellschaftlich politischen Prozess der BRD zu berücksichtigen.

Reinhard Jellen auf "Telepolis", 12.03.2011