Ein Gespräch mit John Holloway in der Spex von Oktober 2004

Streiken, sabotieren, blockieren, Arbeitszeiten reduzieren oder krankfeiern, den Wecker an die Wand schmeißen, mehr Urlaub fordern, den Fernseher anbrüllen und mehr wollen, als ein Leben in der vermeintlich besten aller Welten...? Für John Holloway sind das keine Ausdrucksformen reiner Verzweiflung, sondern notwendige Verweigerungen jenseits jeglicher Reformideen - und zugleich alltägliche Kämpfe um Würde, denen gemeinsam zuallererst ihr Anfang ist: das Nein als Schrei, in dem die Ablehnung der Welt, wie sie ist, und die Hoffnung auf radikale Veränderung noch vereint sind. Dessen ist sich der in Dublin geborene und seit 1993 in Mexiko lehrende Politikwissenschaftler gewiss. So steht der Schrei auch am Anfang seines Buches "Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen", und was auf den Schrei als Auftakt folgt, ist ein 200 Seiten starker Verstärker, der das nur aus der Ferne wahrnehmbare Schreien - die von Selbstbescheidung und Unterdrückung gefährdete Negation der "Hölle" - zu einem wütenden Crescendo verdichtet, das einem die Zerbrechlichkeit des Kapitalismus vor Augen führen soll. Aber während weite Teile der Linken immer noch die staatliche Macht als Schlüssel zu radikalen Veränderungen anstreben, setzt Holloway auf "die Flucht von der Arbeit zum Tun". Ein Gespräch mit John Holloway über Möglichkeiten zur Entfaltung der "Anti-Macht" und seinen Lieblingsschreihals.

Scheiffele: Am Ende deines Buches "Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen" hebst du hervor, wie du das Buch selbst vor allem als eine Einladung zur Diskussion verstanden haben willst. Wie würdest du, fast zwei Jahre nach dem erscheinen des Buches in Deutschland, die bisher stattgefundenen Diskussionen charakterisieren? Welche sozialen Bewegungen knüpfen wie daran an oder grenzen sich wie und weshalb davon ab? Und wie sind deine Erfahrungen mit den unterschiedlichen linken Theorie- und Praxisverständnissen in Deutschland, vielleicht auch im Vergleich zu anderen Ländern?

Holloway: Ja, das Buch versteht sich tatsächlich als eine Einladung zur Diskussion, und die Reaktionen auf diese Einladung waren fantastisch. Die Herausgeber der argentinischen Ausgabe von "Herramienta" haben eine Web Page eingerichtet, auf der die Diskussion in verschiedenen Sprachen (natürlich auch in Deutsch) dokumentiert ist: http://www.herramienta.com.ar . Es sind schon über einhundert schriftliche Kommentare dort abgelegt. Aber fast noch bemerkenswerter als das, sind die Diskussionsgruppen und die Reaktionen auf das Buch bei öffentlichen Präsentationen - die aufregendste davon in Buenos Aires im Herbst 2002 und Anfang diesen Jahres in Berlin. Viele der Erwiderungen waren natürlich sehr negativ; was für mich aber am Wichtigsten ist, ist, dass die Leute wieder über Revolution diskutieren, sich darüber auseinander setzen wollen, wie man die Welt radikal ändern kann.
Die Diskussionen in Deutschland verliefen zumeist auf der Wellenlänge des Buches. Das liegt daran, dass es dort ein tiefes Verständnis von den Kernfragen gibt, wie sie im Buch präsentiert wurden, und einen Willen, sich damit auseinanderzusetzen. Die meisten Kommentare stimmten mit dem Grundproblem durchaus überein: Wenn die Macht ergreifen nicht der Schlüssel ist, um die Welt zu verändern, wie können wir dann vorgehen oder gar über so etwas nachdenken? Von diesem Punkt ausgehend, gab es Kontoversen und Fragen. Wird der Ausgangspunkt aber erst einmal geteilt, gibt es auch eine gemeinsame Stoßrichtung.
Generell denke ich, dass in Deutschland, wie auch in anderen Ländern, eine grundsätzlich wohlgesinnte Reaktion von den "lost rebels" kam, also von denen, die ganz deutlich die Erfordernis eines radikalen sozialen Wandels sehen, aber nicht genau wissen, wie dies umzusetzen sei. Negative Reaktionen kamen hauptsächlich von denen, die immer schon eine Antwort parat haben: Trotzkisten und andere. Dabei gibt es aber eine sehr wichtige Unterscheidung, nämlich zwischen denjenigen die - möglicherweise aufgrund ihres Status innerhalb der Bewegung -, meinen, eine Richtung anzugeben oder eine Position verteidigen zu müssen, indem sie das Buch disqualifizieren, und andererseits den Trotzkisten, die erkennen, dass es Probleme in der revolutionären Theorie gibt und versuchen, sich ernsthaft mit den Argumenten des Buches auseinander zu setzen und ihre Meinungsverschiedenheiten ausdrücken. Vor letzterer Position habe ich sehr viel Respekt.

Scheiffele: Für dich sind viele der neoliberalisierungskritischen Bewegungen wichtige Kampforte zur Entfaltung von "Anti-Macht", da sie sich z.B. gegen die zunehmende Durchkapitalisierung des Sozialen wenden. Gleichzeitig ist es für dich nur wenig sinnvoll, sich dem derzeit stattfindenden Abrissunternehmen des Wohlfahrtsstaates entgegenzustellen, bzw. diesen erneut einzufordern. Die Negation des Kapitalismus und der staatsvermittelten und von "instrumenteller Macht" durchdrungenen Politik sei das Entscheidende - und nicht etwa die Negation einer spezifischen Regulationsweise.
Verschiedene Spielarten der Kritik am Neoliberalismus werden so verdächtigt, bei aller Kritik, letztlich doch auf den Staat als regulierende Instanz zu vertrauen. Ist es nicht aber auch wichtig zu sehen, wie der Neoliberalismus die Linke in ein spezifisches Dilemma oder problematisches Verhältnis zur Kritik und zu (historisch) Alternativen versetzt? So werden viele einst wohlfahrtsstaatskritische und kapitalismuskritische Positionen in eine staatsrestauratorische Rolle gedrängt, alternative Kooperationsweisen oder Formen der Selbstverwaltung erscheinen obsolet oder dem informellen Kontrollregime des Neoliberalismus kaum mehr etwas entgegenhalten zu können?

Holloway: Wir versuchen die ganze Zeit mit dem Kapitalismus zu brechen, und manchmal scheint es hoffnungslos zu sein, manchmal scheint es, dass alles was wir tun, vom Kapitalismus reintegriert wird, wie bei Sklaven oder Gefangenen, die ständig versuchen zu fliehen, aber immer wieder eingefangen und zurück gebracht werden. Ich denke, dass diejenigen, die versuchen, über den Weg des Staates zu fliehen (indem sie Parteien bilden, also versuchen, sich Macht anzueignen), sich geradewegs in den Kapitalismus reintegrieren. (Man denke nur an die Grünen in Deutschland oder an Lula. Das Beispiel von Chávez in Venezuela ist insofern interessant, da es sich hier um den Versuch handelt einen Wohlfahrtsstaat zu erschaffen. Ich kann dort aber keinen Bruch mit dem Kapitalismus erkennen!) Diejenigen von uns, die auf anderen Wegen zu entkommen versuchen - auf Wegen, die erst entstehen, indem man sie beschreitet -, sehen sich mit dem großen Problem des Überlebens konfrontiert und der Frage, ob sich unser Tun nicht in schlecht bezahlte, prekäre Arbeit verwandelt. Es gibt jedoch keine Alternative dazu. Wir müssen unseren "Bruch" annehmen und versuchen, die Welt aus dem Blickwinkel unseres Bruches zu verstehen und nicht durch eine mögliche Reintegration. Anstelle zu sagen: "Wir versuchen ständig wegzulaufen, werden aber immer wieder eingefangen", sollten wir sagen: "Bislang wurden wir immer wieder eingefangen, wir versuchen aber weiterhin zu fliehen". Diese Unterscheidung ist wichtig. Im ersten Fall wird der Eindruck erweckt, der Kapitalismus kontrolliere alle Dinge, im zweiten Fall wird deutlich, dass alles außer Kontrolle geraten ist. Dem "Bruch" an sich kommt eine Gültigkeit zu, die losgelöst von der Zukunft desjenigen besteht, der diesen Bruch vollzogen hat. So wird beispielsweise die Bedeutung von 1968 nicht dadurch verringert, dass viele der daran Beteiligten später Parlamentsmitglieder oder Angestellte im Öffentlichen Dienst wurden. Alles was man tun kann, ist weiterhin zu fliehen, den Bruch suchen, sich weigern, den Kapitalismus zu schaffen und versuchen etwas über ihn Hinausgehendes zu entwerfen. Für die Kunst, Kultur, für alle Bereiche stellt sich die echte Herausforderung darin, ständig den Bruch herbeizuführen und etwas darüber Hinausgehendes zu entwerfen, sich gegen-und-über-das-Kapital-hinaus bewegen.

Scheiffele: In deiner Kritik an Negri und Hardt geht es für dich vor allem darum zu betonen, dass das Kapital und die Arbeiterklasse kein äußerliches Verhältnis annehmen und der Kampf gegen das Kapital nicht positiviert werden kann. Demgegenüber versuchst du mittels des negativen Ansatzes des Prozesses der Fetischisierung die Verdinglichung der Verhältnisse und aller Subjekte hervorzuheben - "wir alle sind geschädigt" -, so dass nicht mehr das Außenliegende allein zur Veränderung ansteht, sondern alles, uns selbst eingeschlossen. Das bedeutet für dich nun vor allem, dass "wir" den Kapitalismus schaffen und nicht unser Gegenüber, das Kapital allein oder etwa zu Natur geronnene Bewegungsgesetze. Das ist für dich nun aber nicht Ausgangspunkt für Pessimismus, im Gegenteil, erst darüber soll die Zerbrechlichkeit des Kapitals in Vordergrund gerückt werden. Ist es aber für politisch-revolutionäre Kämpfe nicht auch wichtig - bei aller Gleichzeitigkeit von Zerbrechlichkeit der Unterdrückung und Festhalten an der Negativität - immer auch anzugeben, wie Adorno sagt, was vom "Stand der Produktivkräfte" aus möglich wäre - was wiederum eine Analyse der historischen Kämpfe erforderlich macht und in deinem Buch eher implizit bleibt? Und wenn ja, was hast du da als "Mögliches" im Blick? Oder wie genau siehst du den Zusammenhang zwischen der Erfordernis immer wieder neu auf veränderten gesellschaftliche Verhältnisse zu reagieren und dem Rekurs auf historische "Errungenschaften" der Linken (wie z.B., die der Arbeiterräte)?

Nun, wenn ich sage, dass wir den Kapitalismus hervorbringen, so will ich damit eigentlich sagen, dass wir aufhören sollten, den Kapitalismus hervorzubringen, dass wir uns weigern sollten an seiner Hervorbringung mitzuwirken. Du hast nach dem Stand der Produktivkräfte gefragt und was ich diesbezüglich für möglich halte. Ich denke, dass die Entwicklung der Produktivkräfte an einem Punkt angekommen ist, wo vor allem die Selbstzerstörung der Menschheit beständig auf der Tagesordnung steht: durch Atomkrieg, atomare Unfälle, die Zerstörung der Ozonschicht, der Wasserressourcen etc. In einer solchen Situation muss als erstes eine Verweigerung stehen. Es ist überhaupt nicht mehr sinnvoll - und ist es auch niemals gewesen -, die Frage nach den Produktivkräften vermittels der alten Vorstellung zu beantworten, man müsse zunächst die Entwicklung der Produktivkräfte vorantreiben, bevor es möglich sei, über Revolution zu sprechen. Die Frage nach der Geschichte ist schwer zu beantworten, aber wenn Verweigerung ein zentrales Moment der anti-kapitalistischen Strategie ist, dann bricht sie auch mit der Zeit sowie mit der Geschichte. Der Kampf um Selbstbestimmung ist deshalb notwendigerweise ein Kampf gegen die Geschichte, also ein Kampf um Befreiung von der Geschichte in der Gegenwart. Kommunismus ist also keine Kumulation der Geschichte, sondern eine Befreiung von der Geschichte.

Scheiffele: Für dich stellt die Trennung des Getanen (das zumeist in Warenform und in Form der Eigentumsverhältnisse den Tätigen als "tote Arbeit" gegenübertritt) vom Tun (das grundsätzlich gesellschaftlicher "Natur" ist) den Kern des Kapitalismus dar. Über diesen Trennungsprozess, der beständig aber nicht reibungslos hergestellt werden muss, wird die Gesellschaft fragmentiert und zugleich organisiert, werden die Verhältnisse zwischen Menschen verdinglicht und auf Identitäten oder Identitätsdenken festgelegt. So zentral diese Trennung für die Aufrechterhaltung der bestehenden widersprüchlichen Verhältnisse ist, so notwendig ist es doch Analysen materieller Verhältnisse vorzulegen, an denen sich Kämpfe orientieren oder ausbilden können. Bleibt eine solche aus, besteht dann nicht die Gefahr in einen Volutarismus zu verfallen?

Ich denke, es gibt viele Dinge, die in diesem Buch nicht angesprochen werden, darin stimme ich mit den Kritikern überein. Ich denke auch, dass eine Menge anderer Bücher in diesem Buch fehlen. Ich weiß nicht ganz, was du mit "genaue Analysen materieller Verhältnisse" meinst. Das Problem, das sich hier stellt ist, dass wenn wir wie Fliegen in einem Spinnenetz gefangen sind, wir die Welt ausschließlich aus dieser Perspektive - also kritisch - wahrnehmen können. Wir können die Welt nicht gleichzeitig von außerhalb des Netzes, also "objektiv", betrachten. Die Vorstellung, dass das kritische Denken durch eine genaue Analyse der materiellen Verhältnisse ergänzt werden sollte ist zwar reizvoll, allerdings unmöglich. Wenn ich nun darauf hinweise, dass die theoretische Arbeit als Teil des Kampfes betrachtet werden muss, so ist das nicht nur eine politische Ermahnung, sondern besagt vielmehr, dass es unmöglich für uns ist, uns außerhalb des Kampfes zu positionieren, den Standpunkt der "Objektivität" einzunehmen. Das ist keine anti-intellektuelle Haltung. Natürlich nehmen diejenigen von uns, die man mit Hubert Herfurth als "professionelle Theoretiker" bezeichnen kann, an dieser Diskussion teil - auf der Grundlage, dass man den Großteil seines Lebens damit verbringt über diese Fragen nachzudenken; aber das ist genau was wir tun, wir nehmen teil an einer Diskussion, legen aber keine allgemeingültigen Richtlinien fest. Ob die Gefahr besteht, hier in einen Voluntarismus zu verfallen? Möglicherweise, aber ich denke, ich bevorzuge es lieber in einen Voluntarismus zu verfallen, als in die vorherrschende Depression.

Scheiffele: Der "Schrei" spielt in deinem Ansatz eine entscheidende Rolle. In ihm drückt sich vor allem die Wut und Ablehnung gegenüber der Welt des Kapitalismus aus. Welterschließung geht demnach nicht vernunftsgeleitet, sondern wut- und affektbeladen von statten. Institutionen wie die Wissenschaft erscheinen dir deshalb als Ort der Ideologie bzw. Trennung von Subjekt und Objekt sowie der Trennung von "Entsetzen" (Aufbegehren/Indikativ) und "Hoffnung" (Veränderung/Konjunktiv), die du im Schrei vereint siehst. Dennoch wirkt dein Ausgangspunkt bisweilen sehr existenzialistisch, da der "Schrei" als Negation der Negation von "Menschlichkeit" und "Würde" seine Kraft gerade aus der kapitalistischen "Entmenschlichung" oder "Entwürdigung" bezieht. Ist das nicht negativ-substanzialistisch und abstraktifizierend zugleich, da der Mensch nicht mehr wie bei Marx als "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" auftaucht? Oder wie genau verhält sich der "Schrei" oder das "Schreien" zu Marxens Ansatz?

Mein Buch ist aus einer langen Beschäftigung mit der marxistischen Theorie und Diskussion hervorgegangen, einem eigenen Ansatz, den wir in Edinburgh entwickelt haben und der sich in der Zeitschrift Common Sense und in 3 Ausgaben von Open Marxism niederschlug. Ich denke es ist wichtig, dass man Marx Theorie als eine, in den Grundzügen kritische Theorie begreift, die aufzeigt, dass alle Erscheinungsformen der Gesellschaft, die Menschlichkeit negieren, letztlich Produkte menschlichen Handelns sind. Wie Marx sagt, handelt es sich dabei um eine Kritik ad hominem. Von den Anfängen bis zu zum Ende verfolgt Marx in seinem Projekt eine Kritik der Fetische, auf dass der Mensch "sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege". Natürlich muss man sehen, dass der Mensch Teil des Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, aber dem geht etwas voraus: Wenn wir das Kapital von Marx aufschlagen, sind wir dabei nicht unschuldig. Wir schlagen es auf, weil ein Schrei in uns ist, eine Wut gegen die Gesellschaft, und wir wollen in unserer Kritik am Kapitalismus weiter gehen, da wir begreifen, dass Marx also wütend auf den Kapitalismus war, er deshalb sein Leben der Kritik am Kapitalismus widmete. Das ist der Ausgangspunkt - der Schrei. Und nur wenn wir Marx mit diesem Schrei vor Augen lesen, können wir ihn verstehen. Wir können Marx natürlich auch auf Anweisung unseres Professors lesen, oder, vielleicht weil Marx, wie Comte oder Weber ein bedeutender Sozialwissenschaftler war. In diesem Fall ist es jedoch sehr unwahrscheinlich, dass wir jemals verstehen werden, wovon er spricht.
Viele Erwiderungen auf das Buch haben mir zum Vorwurf gemacht, ich hätte Marx aufgegeben, tatsächlich verhält es sich aber gegenteilig. Dieses Buch kann als Aufforderung an die jungen Leute der Altermundista Bewegung verstanden werden: Lest Marx, denn er ist der mächtigste Kritiker des Kapitalismus, den wir besitzen. Zu der Frage, ob mein Ansatz negativ-substanzialistisch ist? Nun ja, das klingt zwar gut, aber ich weiß nicht, was genau damit gemeint ist. Wenn es bedeutet, dass das NEIN die nichthintergehbare Begründung der Sozialtheorie ist, dann würde ich dem zustimmen. Ob es sich dabei um einen humanistischen Ansatz handelt, wie du nahe legst? Mag sein, wenn wir Menschlichkeit als etwas Herzustellendes, als eine mögliche Heimkehr begreifen.

Scheiffele: In deinem Buch werden vor allem auf Seiten der Produktionsverhältnisse die Trennung von Getanem und Tun genannt. Geschlechterverhältnisse oder die Trennung von Kopf- und Handarbeit werden tendenziell dabei eher den Eigentumsverhältnissen untergeordnet. Wird dadurch nicht wieder ein Denken in Haupt- und Nebenwidersprüche eingeführt? Und selbst wenn der Schrei dieses Denken verhindern soll, ist es dann trotzdem nicht auch wichtig zu sehen, wie der Schrei weitgehend gesellschaftliches oder arbeitsteilig vermitteltes professionelles bzw. intellektuelles "Schreien" ist. So lässt sich die Kulturindustrie einerseits als eine spezifische Diskursform charakterisieren, innerhalb der beständig die Frage des schon vollständig Integrierten aufgeworfen wird, um dann im Gegenzug herausstellen zu können, dass sich etwas Abweichendes in diesem oder jenem "Werk" oder dieser oder jener "Produktionsweise" ereignet.
Andererseits muss die Kulturindustrie doch auch als komplexe Einrichtung der Trennung von Kopf- und Handarbeit betrachtet werden, die über spezifische Rekrutierungsweisen professionelle oder intellektuelle Schreihälse vom "Schreien" der "Menge" oder des "Wirs" scheidet, so dass tendenziell nur legitimes Schreien, d.h. Schreien als "realitätsgerechte Empörung" (Horkheimer/Adorno) vernehmbar wird, und gleichzeitig Subalterne häufig ihr Schreien deligieren oder immer schon repräsentiert sehen? Wird nicht erst vor diesem Hintergrund verständlich, wie werkorientiertes "Schreien" oder "anti-fetischistische Kunst" nicht mehr als sozialen Kämpfen zugehörig erscheinen, bzw. die Kulturproduzenten und -konsumenten selbst Schreien nur noch als Ausdruck von persönlichen Befindlichkeiten oder als Zugang zu Schönheit oder Wahrheit begreifen?

Zur Frage von Haupt- und Nebenwiderspruch: Nein, ich denke nicht, dass ich ein solches Denken wieder einführe. Mein Argument geht eher in die Richtung: Will man Unterdrückung jeglicher Art verstehen, müssen wir von den Menschen als Subjekte, als Tätige ausgehen, von der Frage, wie ihr Tun mit dem Tun anderer artikuliert ist, wie gesellschaftliches Tun als Ganzes organisiert ist. Obwohl ich auf Geschlechterbeziehungen nicht explizit eingehe, würde ich sagen, dass wir, um jegliche Form von Unterdrückung zu verstehen, das Verhältnis von spezifischem Tun zur Organisation gesellschaftlichen Tuns in seiner Gesamtheit betrachten müssen. Diese Betrachtungsweise lässt sich sowohl auf die Fabrikarbeit, wie auf die Hausarbeit anwenden: Bei beidem handelt es sich um spezifische Tätigkeiten im Kontext der Gesellschaft, in der das Getane systematisch vom Tun getrennt wird. Die zweite Frage (wenn ich dich richtig verstehe): Ja, ich nehme an, wir leben alle in ausgepolsterten Zellen, Universitätsprofessoren genauso wie Musiker oder Theaterdirektoren: Wenn wir schreien gibt es nur ein sehr kleines Echo oder es sind einige wenige Freund, die applaudieren und die zufällig in ein und der selben ausgepolsterten Zelle leben. So kommt es, dass wir nach einer Weile nur noch für den Beifall unserer wenigen Freunde schreien oder für die ästhetische Lust unsere eigenen rebellischen Stimmen zu hören. Aber wenn schon? Was bleibt uns übrig? Aufhören zu schreien? Oder lauter schreien, um zu sehen, wie wir die Wände unserer gepolsterten Zelle zum Einstürzen bringen, immer auf der Suche nach Rissen in den Wänden, nach Sprüngen, nach neuen Weisen des Schreiens, um Wände zu durchdringen? Was können wir sonst noch tun? Uns hinlegen und sterben?

Wer sind eigentlich deine Lieblingsschreihälse?

Vor einigen Jahren, als ich in Edinburgh war, erzählte mir ein Student, wie seine Großmutter derart in Wut über einen Auftritt von Mrs. Thatcher in den Nachrichten geriet, dass sie die Teetasse gegen den Fernseher schleuderte. Seit dem habe ich mir immer vorgestellt, eine Politik von Craig's Granny entwerfen zu müssen. There's my "Lieblingsschreihals".

Peter Scheiffele in der Spex vom Oktober 2004"