Für Heinz Steinert – zu spät (4.8.1942 – 20.3.2011)

„In meinen Kopf passen viele Widersprüche” – diese Zeile von Peter Rühmkorf hat Heinz Steinert häufig zitiert. Sie umschreibt eine der zentralen Voraussetzungen für das, was er selbst „Reflexivität als Lebensweise” genannt hat. Dass in seinen Kopf viele Widersprüche gepasst haben, war auch die Bedingung für die vielen Themen, mit denen er sich beschäftigt, die vielen Kontexte, in denen er gerne gearbeitet, und die vielen Aktivitäten, politische und kulturelle, an denen er sich beteiligt hat.

Heinz Steinert hat Philosophie, Psychologie, Germanistik und Anglistik studiert, eine psychoanalytische Ausbildung absolviert, wurde in Psychologie promoviert und hat sich in Soziologie habilitiert. Er war Mitbegründer und bis 2000 wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien. Von 1978 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2007 war Heinz Steinert Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt „Devianz und soziale Ausschließung” am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt. Wie notwendig und hilfreich es ist, „Kritische Theorie” (dieser Tage muss man präzisieren: die „ältere”) zu aktualisieren, um gegenwärtige Herrschaftsverhältnisse zu analysieren, war eines der kontinuierlichen Anliegen, die sein Denken auszeichneten. Er hat sich aber auch mit Literatur und ihrer Geschichte, bildender Kunst, Musik (besonders Jazz) und mit Filmen beschäftigt. Den Woody-Allen-Filmen kommt ein besonderer Stellenwert zu: Er hat aktuell an einem Buch dazu gearbeitet, das wir leider nicht mehr zu lesen bekommen werden. Schon diese simple Aufzählung (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) deutet an, dass sich Heinz Steinert als Wissenschaftler und kritischer Intellektueller nie um disziplinäre Zuständigkeiten und Begrenzungen gekümmert hat. Ihm war selbstverständlich, dass man sich Fragestellungen nie von den Herrschenden, den politischen, technokratischen oder kulturindustriellen Machern vorgeben lassen darf.

Die Internet-Zeitschrift www.links-netz.de hat er mitgegründet, als Redaktionsmitglied wichtige Fragestellungen formuliert und als Autor mit vielen Beiträgen in unterschiedlichen Sparten zum Gelingen dieses Projekts beigetragen. Dazu gehörte auch eine besondere Form der Zusammenarbeit mit Leuten, die aus ganz unterschiedlichen politischen Zusammenhängen stammen und daher unterschiedliche thematische Zugänge und politische Erfahrungen mitbringen. Es ging ihm immer darum, in intensiven Diskussionen aus den einzelnen Perspektiven eine gemeinsame Kritik der herrschenden Politik zu entwickeln.

Diese politische intellektuelle Arbeit war für Heinz Steinert unverzichtbar. Er hat stets an der unbedingten Notwendigkeit festgehalten, die herrschenden Zustände genau zu beobachten und zu analysieren. Den Einfluss, den kritische Intellektuelle unter kulturindustriellen Bedingungen haben, hat er nüchtern und realistisch eingeschätzt. Wenn es manchmal gelänge, die Verhältnisse intellektuell zum Tanzen zu bringen, die herrschenden Selbstverständlichkeiten ein wenig zu irritieren, dann wäre das doch schon was. Er wusste, dass er die „Welt nicht aus den Angeln” heben würde, er ihr aber hin und wieder „ein Loch hauen” kann. Schon dafür braucht es günstige Konstellationen, Kräfteverhältnisse und Gelegenheiten: Am Versuch, einer „gefängnislosen Gesellschaft” näher zu kommen, war er beteiligt, gegen den neoliberalen roll-back und die dazugehörige repressive Sicherheitspolitik waren Koalitionen viel schwieriger. Heinz Steinert hat sich immer gegen die Anmaßung gewehrt, die Intellektuellen könnten „die Bewegung”, gar einen Aufstand oder eine Revolution anzetteln oder auch nur anleiten. Vielmehr galt auch gegenüber widerständigen Kräften die Notwendigkeit, genau hinzuschauen, deren Aktivitäten wohlwollend zu kritisieren und die neuen Widersprüche, die sich vielleicht ergeben, zu reflektieren.

Die Formel, auf die sich die von Heinz Steinert gelebte Haltung bringen lässt, ist Bescheidenheit und höchster Anspruch zugleich. Über Intellektuelle, die wichtigtuerisch ihre gesellschaftliche Macht überschätzen, hat er gelacht; über diejenigen, die nicht geduldig und sorgfältig genug nachdenken, hat er sich geärgert; diejenigen, die sich von der Herrschaft dumm machen lassen und sich anpassen oder pseudo-kritisch geben, hat er mit Ironie bedacht.

Intellektuelle Arbeit findet nicht nur in autonomen Projekten wie der Internet-Zeitschrift www.links-netz.de statt, sondern auch in bürokratisch verfassten Einrichtungen. Auch hier ist es Heinz Steinert immer wieder gelungen, gegen die nahegelegten bis aufgezwungenen Strukturen einen Rahmen herzustellen, der ernsthaftes (Zusammen-)Arbeiten ermöglicht. Darin, die kleinkarierten und sachfremden Vorgaben, die gerade auch an der Universität immer dominanter werden, abzuwehren (so gut es eben geht) und Nischen zu organisieren, hatte er großes Geschick. An den vielen gemeinsam mit ganz unterschiedlichen Leuten durchgeführten Projekten kann man ersehen, wie sehr er andere einbezogen und für diese intellektuelle Lebensweise begeistert hat. Es war für alle Beteiligten Freude und Ansporn zugleich, aus den vielfältigen Interessen gemeinsam neue Fragestellungen zu entwickeln. Ohne seine Neugierde hätte das nicht funktionieren können.

Wie bunt und vielseitig die Themen auch immer waren, zu denen Heinz Steinert gearbeitet und publiziert hat: Bindestrich-Soziologien waren seine Sache nicht. Seine Kritik der gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten geschah immer unter der Prämisse, dass letztlich auf die Produktionsweise und ihre Widersprüche zurückzubeziehen ist, was uns von Politik und Kulturindustrie angetragen wird, aber auch was in alltäglichen Interaktionen an Normen hergestellt und reproduziert wird. Ohne diese analytische Dimension verkäme Kritik zu moralischer und technokratischer Besserwisserei oder Jammern, wie „schlecht” die Welt doch sei.

Bei aller Ernsthaftigkeit, die er den Dingen beimaß, mit denen er sich beschäftigte, war die Zusammenarbeit mit Heinz Steinert immer auch geprägt von seinem Witz, seinem „Wiener Schmäh”. Er verstand es, die in sich schon absurden Verhältnisse ironisch vorzuführen – Respektlosigkeit war hier die angemessene Haltung. Die persönlichen Beziehungen hingegen zeichneten sich durch Freundlichkeit, die er anderen entgegen brachte, Verständnis und Respekt im gegenseitigen Umgang aus.

Heinz Steinert, in dessen Kopf viele Widersprüche gepasst haben, ist gestorben. Die Widersprüche bleiben. Sie zu identifizieren, zu verstehen, sie für widerständige Praktiken zu nutzen, daran wird weiterzuarbeiten sein – von nun an ohne ihn, aber doch immer auch mit ihm als gedanklichem Gegenüber.

Oliver Brüchert und Christine Resch in links-netz, März; 2011