Hansgeorg Conert (19.3.1933 - 6.1.2004) als Wissenschaftler, Linkssozialist und Individualist*

Hansgeorg Conert hat uns verlassen. Wenige Monate vor seinem 71. Geburtstag beendete am 6. Januar 2004 Herzversagen sein Leben.

Wenn ich meines Freundes Hansgeorg gedenke, so ist dabei zu berücksichtigen, dass ein Mensch seines intellektuellen Formats über einen komplexen Charakter verfügt, er also nicht einfach zu porträtieren ist und schon gar nicht mit wenigen Strichen. Ich möchte mein Bild von Hansgeorg skizzieren, indem ich mich zu vergewissern versuche, an welchem Punkt sich unsere Wege kreuzten, warum daraus eine langjährige und enge Freundschaft entstand und was für mich den Kern seiner Persönlichkeit ausmachte.

Persönlich lernte ich Hansgeorg an der Universität Bremen kennen, als ich dort 1978 mein Zweitstudium begann. Ich besuchte ein Seminar von ihm über die sowjetische Planökonomie, weil ich einerseits Texte von ihm gelesen hatte und er mir andererseits als einer der Exponenten der intellektuellen Bremer-Linken ein Begriff war. Da mich die theoretische Argumentation des Wissenschaftlers ebenso wie die politische Analyse des Linkssozialisten mehr oder weniger überzeugten, war es für mich selbstverständlich, als Student eine seiner Lehrveranstaltungen zu besuchen. Nach gut 25 Jahren fällt es mir schwer, mich meiner ersten Wahrnehmung des Hochschullehrers Hansgeorg zu vergegenwärtigen. Wenn mir meine Erinnerung keinen Streich spielt, so beeindruckte mich insbesondere sein bemerkenswertes wissenschaftlichpädagogisches Ethos.

Aus diesen drei Berührungspunkten zwischen uns entstand in den folgenden Jahren langsam eine Freundschaft. Was das Eingehen letzterer betrifft, so war Hansgeorg trotz seiner Offenheit und Herzlichkeit in persönlichen Angelegenheiten ein vorsichtiger und bedächtiger Mensch, vielleicht vermöge seiner Aufrichtigkeit, die er, zumal in politischen Fragen, bis zur Schroffheit radikalisieren konnte. Vor allem anderen aber zeichneten ihn zwei Eigenschaften aus, die unprätentiöse und sinnliche Grundstruktur seines Charakters. Er war, obwohl er sich seines Stellenwerts durchaus bewusst war, ohne jegliche Allüren und wusste die sinnlichen Freuden des Lebens zu schätzen. Die Askese ebenso wie die Selbstdarstellung gewisser linker Intellektueller weckten dagegen sein Misstrauen. Diese und andere Eigenschaften nahmen mich für ihn ein.

Hansgeorgs Persönlichkeit gründete auf drei Pfeilern: er war Wissenschaftler, Linkssozialist und im dargelegten Sinne ein auf seine Unabhängigkeit bedachter, eigensinniger Individualist. Auch wenn die drei Säulen in seiner Person eine untrennbare Einheit bildeten, so ist die von mir gewählte Reihenfolge doch nicht zufällig. Primär war er Intellektueller, was für ihn als Gesellschaftswissenschaftler bedeutete, Spezialist für die allgemeinen Angelegenheiten der vergesellschafteten Menschen zu sein. Seine wissenschaftstheoretische Position verortete er in der Kontinuität der Aufklärung, genauer: in einer durch die dialektische Kritik hindurchgegangenen Aufklärung. Seine normative Richtschnur war die Konstitution einer Gesellschaft der Freien und Gleichen, an der er die gegenwärtige Gesellschaft und ihren Staat maß. Für ihn hieß das, alle Verhältnisse zu kritisieren, in denen der Mensch ein ausgebeutetes, unterdrücktes und erniedrigtes Wesen ist. Die politischen Schlussfolgerungen seiner theoretischen Einsichten machten ihn, so seine eigene Formulierung, zum "konsequenten Sozialisten". Als solcher pflegte er im Verlaufe seines Lebens Arbeitsbeziehungen zu gewerkschaftlich organisierten Linken, zu verschiedenen linkssozialistischen Gruppierungen, Projekten und Redaktionen. Er war ein genuiner politischer Intellektueller. Im privaten Umgang knüpfte und pflegte er, soweit mir bekannt ist, zu solchen Menschen dauerhaften freundschaftlichen Kontakt, zu denen er sich nicht nur aufgrund ihrer menschlichen Eigenschaften hingezogen fühlte, sondern mit denen er sich darüber hinaus auch wissenschaftlich und vor allem politisch austauschen konnte. In der Beziehung musste eine gewisse Grundübereinstimmung bestehen. Löste sie sich auf, gab es für ihn keine Kompromisse. Denn die verbindende Klammer zwischen den drei Komponenten seiner Persönlichkeit - Wissenschaftler, Linkssozialist, Individualist - war die Wahrung seiner Integrität.

Plastisch machen kann ich das vielleicht am besten an der in der Heimvolkshochschule der Jägerei Hustedt, an der er nach seinem sozialwissenschaftlichen Studium in Wilhelmshaven rund zehn Jahre als Ost-West-Referent tätig war, stattfindenden Tagung zu seinem siebzigsten Geburtstag im April letzten Jahres mit dem Thema "Vom Niedergang der Sowjetunion zur globalen Hegemonie der USA?". Obwohl er die Heimvolkshochschule bereits Ende der 60er Jahre verlassen hatte, haben ihm seine alten Kollegen, Weggefährten, Freunde und Genossen aus der Arbeiterbildung über 30 Jahre später die Ehre dieser Veranstaltung erwiesen. Hansgeorg war sich selbst und anderen gegenüber ein treuer Mensch. Die Tagung selbst mit ihrer Mischung aus Wissenschaft, Politik und Fest war charakteristisch für ihn. Sich für seine Lebensbilanz als Person ehren zu lassen, war nicht seine Sache. Und als zu Beginn des Festes einer seiner früheren Kollegen zu einer kurzen Laudatio anhob, merkte der Freund sofort, wie unwohl er sich dabei fühlte, als Jubilar im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Als dann nach einem zweiten auch noch ein dritter Redner ihn ehren wollte, unterbrach er ihn mit den Worten, "Liebe Freunde, nun ist es genug der Reden, wir sind zum Feiern hier." Das haben wir dann auch ausgiebig getan. Aber es wurde eben nicht nur gefeiert. Die Feier seines siebzigsten Geburtstages war für ihn vielmehr primär der Anlass dafür, im Freundeskreis über Charakter und strukturelle Tendenz der gegenwärtigen Weltordnung nachzudenken. Es war ein wunderbares Wochenende.

Wenn ich mir die Frage zu beantworten versuche, warum Hansgeorg zu dem geworden ist, der er für mich war, so muss ich mit dem Jahr seiner Geburt beginnen - 1933. Er wuchs als Sohn eines selbständigen Müllers in der Nähe von Weimar auf. Aus den wenigen Erzählungen von ihm zu seinen frühen Jahren weiß ich, dass es für ihn als Kind zwar das "normalste" der Welt war, in der Zeit des Schreckens aufzuwachsen. Angesichts fehlender Vergleichsmöglichkeiten konnte das auch nicht anders sein. Zugleich war er sich aber absolut sicher, in späteren Jahren unter keinen Umständen ein Parteigänger des nazistischen Regimes geworden zu sein, hätte es statt zwölf tatsächlich 1000 Jahre existiert. Schon als Kind stießen ihn nämlich Zwangsvergemeinschaftung, der er im "Jungvolk" ausgesetzt war, und Brutalität, deren Zeuge er war, ab. In den Kontext gehören ebenso die geheimnisvollen Vorgänge auf Goethes Ettersberg im Konzentrationslager Buchenwald, von dem er selbst als Kind bereits schaudernd wusste, dass den Lagerinsassen dort Schreckliches angetan wurde. Der Marsch der befreiten Gefangenen durch sein Dorf hatte sich ihm unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt. Zu seinen prägenden Erfahrungen gehörte weiter, wie eine scheinbar auf Ewigkeit angelegte Ordnung sich buchstäblich über Nacht in Luft auflöste. Von seinen Jugendjahren in der SBZ und der DDR ist mir nur in Erinnerung, dass er der neuen Ordnung neutral begegnete. Seine Übersiedlung nach Frankfurt a.M. resultierte aus seiner Befürchtung, als Sohn eines selbständigen Handwerkers nicht zum Studium zugelassen zu werden. In der kapitalistischen BRD angekommen, lernte er schnell die Differenz zwischen den wohlfeilen Sonntagsreden über die Verbundenheit mit den Brüdern und Schwestern in der "SBZ", wie die offizielle Sprachregelung für die DDR damals lautete, und der tatsächlichen Gleichgültigkeit ihrem konkreten Schicksal gegenüber kennen. Das schärfte seine Sinne für die der bürgerlichen Gesellschaft eigene Heuchelei.

Hält man sich Hansgeorgs Kindheit und Jugend vor Augen, so war es zwar ein weiter Weg vom Kind eines selbständigen Handwerkers, das als einziger Sohn unter "normalen" Umständen vermutlich den Betrieb seines Vaters übernommen hätte, zum sozialistischen Intellektuellen, gleichwohl entbehrt dieser Weg nicht einer gewissen Logik. Denn ist es nicht die trügerische "Normalität" des faktischen Ausnahmezustandes, bereits in einem jungen Leben nazistische Diktatur, Weltkrieg, stalinistischen Staatssozialismus und bundesrepublikanischen Kapitalismus zu erleben? Und klärt einen sensiblen und intelligenten jungen Mann die damit verbundene Entwurzelung nicht ganz praktisch über die Zufälligkeit seiner individuellen Existenz auf? Wie auch ebenso praktisch darüber, dass diese mit jedem Faden und bis ins Innerste hinein mit dem gesellschaftlichen Ganzen verknüpft ist? Und liegt es angesichts einer solchen Biographie nicht nahe, nach einer Theorie zu suchen, die eine Interpretationsfolie zur Erklärung dieser katastrophalen Ereignisse zu liefern und zugleich Orientierung in dem allgegenwärtigen Chaos zu stiften verspricht?

Hansgeorg lernte eine solche Theorie in der marxschen Kritik der politischen Ökonomie kennen. Als Theorie der bürgerlichen Gesellschaft war sie für ihn bis zuletzt unübertroffen und von bedrängender, ja bestürzender Aktualität. Durch sie lernte er, zwar die Mannigfaltigkeit der unmittelbaren Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, sie aber nie fürs Ganze zu halten, sondern sie im Gegenteil nach ihrem gesellschaftlichen und geschichtlichen Entstehungsprozess und Stellenwert in der Gesamtgesellschaft sowie ihrer Formbestimmtheit zu befragen und in Frage zu stellen. Und zugleich war die marxsche Kritik für ihn die Orientierungswissenschaft schlechthin, die den einzig denkbaren vernünftigen theoretischen Ausweg aus dem Verhängnis der gegenwärtigen Gesellschaft eröffnete - Marxens "Verein freier Menschen". Das machte ihn zum überzeugten marxistischen Linkssozialisten. Als solcher war ihm unabhängig von seinen politischen und publizistischen Aktivitäten für die Sache der sozialen Emanzipation stets klar, wie unwahrscheinlich die praktische Verwirklichung der von ihm ersehnten Gesellschaft der Freien und Gleichen war. Die Verbreitung selbstbetrügerischer Illusionen oder falschen Trostes hielt er im Falle einer so ernsten Angelegenheit wie der sozialen Emanzipation für fahrlässig. Statt dessen sah er als realistischer Mensch den unangenehmen Tatsachen ins Auge, weil er sie trotz alledem verändern wollte. Sein Denken und Handeln waren zutiefst der humanistischen Aufklärung verpflichtet, deren Grenzen er reflektierte.

Hansgeorgs prägende Erfahrungen und der von ihm favorisierte theoretisch-politische Ansatz bildeten zusammen mit seiner intellektuellen Leidenschaft und enormen Produktivität die Basis für die Kontinuität seiner wissenschaftlichen Fragestellungen und für seine umfangreichen publizistischen Aktivitäten. Mit Blick auf die Kontinuität seiner Arbeitsfelder waren das die Geschichte der Arbeiterbewegung und die Theorie der Arbeiterbildung, der sowjetische Staats- und der jugoslawische Selbstverwaltungssozialismus, die Theorie der kapitalistischen Gesellschaft und die Kritik der politischen Ökonomie. Zu diesen Themen hat er Dutzende Artikel und Aufsätze und mehrere Bücher veröffentlicht. Sein Hauptwerk, die große Studie Vom Handelskapital zur Globalisierung mit dem Untertitel Entwicklung und Kritik der kapitalistischen Ökonomie, erschien 1997, Jahre nach seiner Pensionierung als Hochschullehrer der Universität Bremen. Ich bin mir sicher, dass das Buch zu einem Klassiker der kritischen Gesellschaftstheorie werden wird.

Über seine unermüdliche wissenschaftliche Arbeit und die mit Leidenschaft ausgeübte Rolle des Lehrers vergaß Hansgeorg nicht, auch die Annehmlichkeiten des Lebens zu genießen. Dieser Seite seines Lebens verdankt sich unsere Freundschaft. So stieß ich um das Jahr 1980 herum zu einem kleinen wissenschaftlich-politischen "Stammtisch", aus dessen Diskussionen heraus sich ein enger Freundeskreis entwickeln sollte. Wo immer und zu welchem Anlass wir uns auch trafen, es war stets eine Mischung aus theoretischem und politischem Disput und persönlichen Angelegenheiten. Diese Mixtur hat ihn mit seinen Freunden verbunden. In dem Zusammenhang werde ich nie vergessen, wie wir uns 1987 am Vorabend seiner Abreise zu einem mehrmonatigen Forschungsaufenthalt in der Sowjetunion zu viert zum Abschied in einer Kneipe trafen und Hansgeorg irgendwann im Verlauf der Nacht das seinerzeit noch Unvorstellbare aussprach: Er gebe der Sowjetunion keine fünf Jahre mehr. Die empirisch-analytische Begründung seines apodiktischen Urteils ist in seiner drei Jahre später erschienenen bedeutenden Studie über Die Ökonomie des unmöglichen Sozialismus. Krise und Reform der sowjetischen Wirtschaft unter Gorbatschow nachlesbar.

Der unausweichliche Sachverhalt, als Teil der Natur ein endliches Wesen zu sein, rückte für Hansgeorg in den 90er Jahren infolge schwerer Herz- und Gefäßkrankheiten immer mehr ins Zentrum seines Lebens. Aber ungeachtet dessen arbeitete er unter Schmerzen fast bis zum letzten Tag. Seinen letzten Text vollendete er wenige Wochen vor seinem Ableben.

Mit Hansgeorg Conerts Tod haben die marxistische Wissenschaft und der Linkssozialismus Deutschlands einen bedeutenden Kopf verloren.

* Gekürzte und leicht überarbeitete Rede zur Trauerfeier von Hansgeorg Conert in Bremen am 10. Januar 2004.

Volker Stork in: in: PROKLA 134 "Die kommende Deflationskrise"