Dolderer/Holme/Jerzak/Tietge (Hrsg.). O Mother, Where Art Thou?
Hg. greifen unter Betrachtung von Lebensrealitäten und theoretischen Zugängen
ein Thema auf, das untrennbar mit feministischer Theorie und Praxis verbunden ist und
historisch auch war (9), aber im Queer-Feminismus, also der speziischen, durch Verf.
eingenommenen Perspektive sowie auch allgemein »in aktuellen feministischen Debatten
im deutschsprachigen Raum« vernachlässigt sei (8). Die Gründe seien einerseits
Lebensverhältnisse bzw. Lebensstile, für die ein Leben mit Kindern nicht integrierbar
bzw. anti-emanzipatorisch scheint und andererseits theoretische Zugänge, die bestehende
Ansätze zur Analyse von Materialität und Körperlichkeit in Bezug auf Schwangerschaft,
Gebären und Stillen als biologistisch und essenzialistisch verwerfen (8f) bzw.
»emotional-intuitiven Positionen« der >Arbeit aus Liebe< keinen Raum geben (135).
Entstanden ist das Buch im Kontext einer durch die Hans-Böckler-Stiftung inanzierten
Wissenschaftler*innen-Werkstatt (19f). Der Buchtitel ist die abgewandelte Form des
Filmtitels »O Brother, Where Art Thou?«, wodurch »auf das solidarische Potenzial einer
nicht >brüderlichen<, sondern >mütterlichen< Vernetzung« hingewiesen werden soll (14).
Die Vielfalt des Bandes zeigt sich nicht nur in den gewählten Schwerpunkten und der
Interdisziplinarität der Herangehensweisen, sondern auch in der Vielfalt der Präsentationsformen:
Persönliche Erfahrungsberichte sind ebenso zu inden wie ein Stück Prosa,
ein Interview, die Analyse von Blogs und die Vorstellung empirischer und theoretischer
Forschungsergebnisse. Ausgangspunkt sind empirisch nachgewiesene Unterschiede und
Ungleichheiten zwischen (den) Geschlechtern in Bezug auf reproduktive Tätigkeiten in
der Sorge für Kinder, aber auch darüber hinaus (8). Verf. verwenden entsprechend die
Begriffe Mutterschaft und Mütterlichkeit »nicht nur als Analyse-, sondern zugleich als
Kampfbegriffe« (13), wenngleich der Begriff der (sozialen) Elternschaft einer queeren
und dekonstruktiven Perspektive auf den ersten Blick näherliegen mag. Bestehende
Lebensverhältnisse und -weisen werden kritisiert, beispielsweise die »Kleinfamilie« als
»Garant für die geschlechtliche Arbeitsteilung von privat und öffentlich, sichtbar und
unsichtbar und bezahlt und unbezahlt« (92). Es gibt einen Blick zurück in die »Zeit
des Aufbruchs« (109) in den 1970ern die Entstehung der zweiten Frauenbewegung
(Notz) und deren Utopien, zu denen die Politisierung des vermeintlich Privaten gehört
(103), auch neue Wohnformen oder die kritische Relexion des Umgangs mit Kindern
(104). Dabei wird ein neues Verständnis von Familie am Beispiel von »Familien, die
nicht auf Zweigeschlechtlichkeit und Reproduktion beruhen« (145), entwickelt und das
Stärken von »marginalisierten Elternschaftskonzepten« (148) als queer-feministische
Forderung formuliert. Hierin liege der Unterschied zwischen einer feministischen und
einer queer-feministischen Perspektive, denn letztere denke »unterschiedliche demographische
Zugangsmöglichkeiten zu Elternschaft« (152), also auch Familien, die nicht auf
heterosexuellen Paaren begründet sind.
Der Band ist um die Kategorie »Fürsorge« als »allgemein menschliche Qualität«
(93) also explizit nicht speziisch weibliche (95) organisiert, woran sich ein neues
Verständnis von Weiblichkeit knüpft. Dadurch wird die Gleichsetzung Frau Mutter
überwunden und gleichzeitig kann danach gefragt werden, wer unter welchen Bedingungen
welche Sorgearbeit leistet: Teil 1 des Buches betrachtet den diskursiven Zusammenhang
zu Weiblichkeit, Teil 2 richtet den Blick auf utopische Formen einer Praxis
der Fürsorge, heute und in der Geschichte, während im Teil 3 nach dem Zusammenhang
zwischen bestehenden Praktiken und der fortwährenden Konstruktion und Produktion
von Geschlechterdifferenzen gefragt wird.
Einleitend wird das Thema im historischen und gesellschaftlichen Kontext situiert,
und der Zusammenhang vorherrschender Konzepte von Mutterschaft und Mütterlichkeit
mit bürgerlich-kapitalistischen Lebensverhältnissen sowie auch der Wandel von Konzepten
bzw. Leitbildern und Lebensrealitäten werden aufgezeigt (Speck). So sei »mütterliche
Arbeit in all ihrer Entgrenzung und Widersprüchlichkeit zum Vorbild postfordistischer
Arbeitsverhältnisse geworden« (41). Der Band beleuchtet vielfältige Facetten von Mutterschaft
und Mütterlichkeit, wie etwa einen Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland
(Enders und Schulze), Erkenntnisse zur transnationalen Mutterschaft im Kontext von
Arbeitsmigration (Haidinger) sowie die Perspektive einer »Black Motherhood«, die
auch ein Empowerment von Kindern zum Leben in rassistischen Strukturen beinhaltet
(Richards). Auch das Dechiffrieren und Kritisieren von bestehenden Arbeitsteilungen
und Ungleichheiten im alltäglichen Leben gehört dazu. So analysiert Tietge die (latente)
Reproduktion von Geschlechterdifferenzen in heterosexuellen Paarbeziehungen und
kommt zum Ergebnis, dass in diesen Beziehungen in mehreren Fällen unbewusst eine
»Mutter-Sohn-Beziehung« bestehe (191ff). Plädiert wird dafür, sowohl Mutterschaft als
auch Nicht-Mutterschaft als (emanzipatorische) Lebenskonzepte zu ermöglichen (Diehl;
Brinkmann), denn Kinder losigkeit könne von Frauen auch als »Selbstschutz« (85) davor
gewählt werden, nicht in eine Rolle gedrängt zu werden, »die ihre Handlungsfähigkeit
massiv einschränkt« (ebd.).
Deutlich wird, dass sich der Band im Spannungsfeld von Queer-Feminismus und
Feminismus bewegt. Wenn für eine »Versöhnung des Feminismus mit dem Thema Mutterschaft
« (48) oder für eine »neue Form der feministisch-orientierten Mütterlichkeit« (58)
plädiert wird, fragt man sich: >Welcher Feminismus?< denn kann es diesen überhaupt
ohne das Mitdenken von Materialität und Körper(lichkeit) in Bezug auf die Lebensproduktion
geben? Und ist es nicht gerade das Nicht-Feministische, das das Andere im Sinne
des Lebendigen, Lebensproduzierenden ausschließt und abwertet? Im Band wird, dieser
Lesart entsprechend, die Abwertung (bezahlter und unbezahlter) fürsorgender Tätigkeiten
kritisiert (203f). Die Verbindung zu einer speziisch queer-feministischen Utopie
ist dadurch hergestellt, dass nicht-heteronormative Lebensmodelle mitgedacht werden.
Perspektivisch wäre nicht nur zu fragen, ob die Themen Mutterschaft und Mütterlichkeit
innerhalb des (Queer-)Feminismus randständig waren oder sind, sondern auch, ob aktuell
der Themenkomplex zum Trend wird: Neben dem hier besprochenen Band erschienen
weitere Publikationen zum Thema und es wurden und werden Veranstaltungen auch
aus explizit queer-feministischer Perspektive organisiert. Im Kontext einer Zuwendung
zu Materialitäten und Materialismus im Kontext der Frauen- und Geschlechterforschung
könnten Mutterschaft und Mütterlichkeit als vermeintlich vernachlässigtes Thema zum
neuen Trendthema feministischer, auch queer-feministischer, Theorie und Praxis werden.
Beate Friedrich (Lüneburg)
Das ARGUMENT 318/2016