Julian Wenz in: Internationale Politik und Gesellschaft

Altvater/Mahnkopf. Konkurrenz für das Empire


Nach dem Platzen des Traums einer gemeinsamen europäischen Verfassung durch die ablehnenden Referenden der französischen und der niederländischen Bevölkerung im Jahre 2005 ist die EU mit dem Negativvotum der Iren über den modifizierten „Verfassungsvertrag“ erneut in eine tiefe Krise geschlittert. Was aus den gescheiterten Referenden folgte, war allerdings nicht etwa eine umfassende Diskussion über den Verfassungsinhalt oder über die hinter der Ablehnung steckenden Motive und Ängste der Bevölkerung. Auch in weiten Teilen der Medien spielte dies eine eher untergeordnete Rolle. Vielmehr entwickelte sich eine Debatte, wie ein Verfassungsvertrag möglichst ohne weitere Zwischenfälle bzw. trotz des Negativvotums wie im Falle Irlands verwirklicht werden kann. Umso wichtiger ist eine öffentliche und kritische Auseinandersetzung über das Selbstverständnis der Europäer; darüber, wie, unter welchen Konditionen und auf Basis welcher Übereinkünfte, gemeinsamer Werte und Normen das Zusammenleben in der Europäischen Union in Zukunft verfasst sein soll.

Ausreichend Diskussionsstoff hierfür bietet das Autorenpaar Birgit Mahnkopf und Elmar Altvater mit seinem Buch „Konkurrenz für das Empire – Die Zukunft der Europäischen Union in der globalisierten Welt“. Der emeritierte Politikprofessor Elmar Altvater und die Professorin für Europäische Gesellschaftspolitik an der Fachhochschule für Wirtschaft Berlin, Birgit Mahnkopf, beides „Altermondialisten“, Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats von Attac und zudem Verfasser des globalisierungskritischen Standardwerks „Grenzen der Globalisierung“, unterziehen die Funktionslogik der Europäischen Union in ihrem neuesten Buch einer materialistischen Generalanalyse – oder vielmehr einer Generalkritik.

Das Buch ist in acht Kapitel gegliedert und inhaltlich sehr breit angelegt. Es kann in zwei Teilen gelesen werden: Zum einen werden die inneren Strukturmerkmale der europäischen Integration (Politische Ökonomie, europäische Staatlichkeit und Gesellschaftsmodell) beschrieben und bewertet. Danach folgt eine Analyse der außenpolitischen Strategien der EU in Bezug auf die Umwelt- Energie-, Handels- und Währungspolitik.

Im ersten Kapitel entwerfen die Autoren die Grundthese, auf die sich die darauf folgenden Kapitel beziehen: Demnach agiert die EU „geopolitisch“, indem sie ein „Bündel von Strategien der imperialistischen Expansion politischer Macht im ökonomischen Interesse“ (S. 39) verfolgt. Wo die Geoökonomie, worunter sowohl die Ausweitung des Handels über Verträge und Kooperationsabkommen als auch die europäische Erweiterung gefasst werden, an ihre Grenzen stößt, tritt folglich das Mittel der Geopolitik in Form eines neuen europäischen Imperialismus auf den Plan. Dieser weltpolitische Anspruch der EU führt zur „Konkurrenz für das Empire“, dessen Zentrum die USA darstellen. Der Gegenstand der Konkurrenz: Ressourcen, neue Absatzmärkte und Investitionsmöglichkeiten.

Nach einem kurzen historischen Abriss der Entstehungsgeschichte wird die Erweiterung und Vertiefung der Integration analysiert, die vor allem durch die Her- und Sicherstellung der Marktfreiheiten, also negativer Integration über politische Deregulierung zugunsten der großen Marktakteure und stärkerem Wettbewerb charakterisiert ist. Die EU stellt eine Vereinigung von Marktakteuren dar, der es an positiver Integration über ein europäisches Gesellschaftsmodell mangelt. Die durch die Dreifaltigkeit in Form von Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung gekennzeichnete Politik verhindert auch die Entstehung einer starken europäischen Zivilgesellschaft, die eine europäische Öffentlichkeit zu bilden imstande wäre und darüber eine positiv-soziale Integration forcieren könnte. Diese fortbestehende marktzentrierte „Hayeksche“ negative Erweiterung und Vertiefung der Integration führt in der EU zu einer Verstärkung der Einkommensungleichheiten zwischen den Regionen und den Gehaltsgruppen, zur Prekarisierung der Arbeit, zu einer divergenten Entwicklung der Lohnstückkosten und ist darüber hinaus nicht in der Lage, die Arbeitslosigkeit zu senken.

Aus einer staatstheoretischen Perspektive reflektieren die Autoren die „Herausbildung einer europäischen Staatlichkeit“ anhand der Kriterien Recht, Geld sowie Macht und Konsens. Diese Bereiche weisen allesamt neoliberale Charakteristiken auf. Für den Bereich des Rechts stellen die Autoren fest, dass der Verfassungsvertrag von den Logiken der beschriebenen negativen Integration geprägt ist und bestimmte wirtschaftspolitische Konzepte für die Zukunft festschreiben sollte. Alternative Konzepte würden somit ausgeschlossen. Der Anspruch der EU als „Weltpolizist“ spiegelt sich in der Militarisierung und Aufrüstung wider, die in der Verfassung festgehalten sind. Die Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik der Mitgliedsstaaten ist durch das Primat der monetären Stabilität über die Maastricht-Kriterien der Flexibilität beraubt. Die einheitliche Geldpolitik auf Basis unterschiedlicher Wirtschaftsniveaus kann deshalb, auch angesichts des verschärften Steuerwettbewerbs, zu weiteren sozialen Verwerfungen führen. Die Zustimmung der Bevölkerung zu diesen Politiken, die in gewissem Maße notwendig für deren Durchsetzung ist, wird im Sinne Foucaultscher Gouvermentalité über die Kommunikation von Sachzwanglogiken hergestellt und führt zur Akzeptanz des ökonomischen Neoliberalismus.

Besonders kritischer wird das im Rahmen der Lissabon-Strategie verfolgte Ziel, die wettbewerbsfähigste Region der Welt zu werden. Diesem Ziel wird alles untergeordnet. Der soziale Dialog und die Ansätze eines europäischen Sozialmodells stehen deshalb auch stets im Dienst eines „neoliberalen Projekts (...) des übergeordneten Wettbewerbsprinzips“ (S. 127). Soziale Kohäsion ist für die Autoren durch diese Form negativer Integration mit entfesseltem Standortwettbewerb nicht realisierbar.

Die Umsetzung der Lissabon-Strategie innerhalb der EU findet ihre Fortsetzung im „Global Europe“-Projekt. Hierbei sollen die nationalen Gesetzgebungen und Ordnungspolitiken der Unternehmensautonomie und die Liberalisierung des Beschaffungswesens zur Stärkung des freien Handels sicherstellen. Ziel ist es, die Handelsbarrieren zu den europäischen Märkten zu senken, um im Gegenzug Marktzugang und Investitionsmöglichkeiten in Entwicklungs- und Schwellenländern zu schaffen. Durch die Harmonisierung von Regulierungen sowohl innerhalb als auch im Verhältnis zu den USA soll die EU als Global Player in der Weltwirtschaft gestärkt werden. Harmonisierung des Binnenmarktes und Regulierungskonvergenz werden in eine aggressive Außenhandelspolitik zur Stärkung der multinationalen Konzerne übersetzt. Diese als neu charakterisierte Außenhandelspolitik ist von einer Abwendung vom Anspruch des Einklangs von Handelspolitik mit Menschenrechten, Demokratie sowie entwicklungs- und umweltpolitischen Zielen gekennzeichnet.

Als Beispiele werden die entwicklungsfeindlichen Forderungen in den GATS-Verhandlungen und die Ziele und Forderungen innerhalb der Verhandlungen über die Economic Partnership Agreements (EPAs) diskutiert, die in eklatantem Widerspruch zu den Rechten und Bedürfnissen der Menschen im globalen Süden sowie den Interessen der Beschäftigten, der Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen in den Industrieländern stehen.

Ein ähnlich schlechtes Zeugnis stellen die Autoren der Energie- und Umweltpolitik aus. Diese habe die Gestalt eines „ökologischen Imperialismus“ (S. 188). Gemessen am ökologischen Fußabdruck leben die Europäer weit über ihre Verhältnisse. Daher müssen in diesem Kontext Verteilungs- und Gerechtigkeitsprobleme sowie Fragen des Lebensstils und der Produktionsweise thematisiert werden. Zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit durch die Lissabon-Strategie ist die EU auf den Import natürlicher Ressourcen angewiesen. Daher findet Lissabon auch hier seine nach außen gerichtete Ergänzung. Im globalen Kampf um das „Peak Oil“ ist die EU „in wichtigen Ölregionen geopolitisch und militärisch präsent“ (S. 202). Auch hier gerät die EU in Konkurrenz zum Empire. Politischer und militärischer Druck wird eingesetzt, wo der Zugang zu Energiereserven über Freihandel und diplomatische Vereinbarungen nicht zustande kommt. Der Einsatz in Afghanistan wird so als neuer „Öl-Imperialismus“ interpretiert. In diesem Zusammenhang wird auf den Klimawandel als Folge der uneingeschränkten Nutzung fossiler Energie und auf Fragen der globalen Umweltgerechtigkeit hingewiesen. Nur eine radikale Abkehr von der Nutzung fossiler Energiequellen und der Übergang zur Nutzung erneuerbarer Energien könne in Zukunft dauerhaft Frieden und Wohlstand gewährleisten. Dies setze eine Umwälzung der bestehenden Energiekette und der Produktion, der Lebensweise und der Konsummuster voraus. Am Ende steht für die Autoren die Nutzung der Energie im Rahmen einer solidarischen Ökonomie. Dass auch hinsichtlich der Welt- und Ölwährung die EU zunehmend als Konkurrenz zu den USA auftritt und welche Konsequenzen sich daraus ergeben, wird in einem weiteren Kapitel analysiert. Der Euro gewinnt als Weltwährung an Bedeutung. Ein Wechsel von Petrodollar zum „Petro-Euro“ wird für die Ölexporteure damit reizvoller.

Abschließend werden verschiedene europäische Zukunftsszenarien diskutiert, und hierin liegt der eigentliche Wert des Buches: Aus der profunden Kritik an der EU ergibt sich nicht etwa die generelle Ablehnung der europäischen Integration, sondern der progressive Hinweis darauf, dass jenseits von Sachzwängen immer verschiedene Zukünfte möglich sind und der eingeschlagene, von den Autoren als imperialistisch-neoliberal charakterisierte Weg keineswegs alternativlos ist. Durch die deskriptive Vorgehensweise, der stets ein normativer Schluss ansteht, bietet das Buch viele kritische Gedanken und Sichtweisen. Die Alternativen bleiben allerdings sehr vage. Vor allem bei der Kritik der negativen Integration bleiben konkrete Vorschläge aus. Hier wird deutlich, dass die inhaltliche Breite des Buches oft zu Lasten der Tiefe geht. Dass es zum Beispiel nicht etwa nur eine diffuse neoliberale Grundausrichtung der EU sondern auch unterschiedlichste tradierte Systeme nationaler Sicherung sind, die der Einigung zugunsten einer Wohlfahrtsunion im Sinne positiver Integration entgegenstehen, bleibt völlig unbeachtet. Dabei wäre gerade hier eine differenzierte Analyse unter Beachtung der Vetospielerpositionen fruchtbar gewesen. Lediglich im Kapitel über Klimawandel, Energiesicherheit und den „ökologischen Imperialismus“ der EU mündet die Kritik in progressiven und weitreichenden Alternativvorschlägen. Die Autoren weisen auf die große Bedeutung von zivilgesellschaftlichen Gruppen und Bewegungen für die Formulierung von alternativen „Zukünften“ und die Zurückgewinnung öffentlicher Diskursräume zur Schaffung einer Gegenöffentlichkeit hin. Überhaupt ist das Buch von einem kämpferischen Duktus gekennzeichnet, die vielen wertvollen und weiterführenden Gedanken sind an eine teilweise polemische argumentative Rhetorik angeschlossen. Wer sich daran nicht stört, wird durch eine Menge fundamentaler argumentativer Kritik belohnt.

Das Buch kann man als eine Art kritischen EU-Reader verstehen, den man auch als solchen lesen sollte: Man muss nicht mit allen Argumentationen und Wertungen übereinstimmen, der holistische Ansatz bietet aber wertvolle Denkanstöße. Es ist daher als erfrischende, über die kleinteiligen europapolitischen Debatten und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen hinausgehende Kritik für alle zu empfehlen, die einen Überschuss an Utopie und Freude am kritischen Denken haben und diese europäische Einigung aus kritischer Perspektive betrachten möchten.

Internationale Politik und Gesellschaft Nr. 4/2008 (Hrsg. Friedrich-Ebert-Stiftung)

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