Friedhelm Wolski-Prenger in: Utopie kreativ

Kößler/Wienold. Gesellschaft bei Marx

Entgegen der Erwartungen, daß mit dem Zusammenbruch des ‚real existierenden Sozialismus‘ auch das Theoriegebäude seines vermeintlichen Begründers Karl Marx endgültig eingestürzt sei, erleben die Sozialwissenschaftler derzeit so etwas wie eine kleine ‚Marx-Renaissance‘. Die aktuellen wirtschaftlichen Probleme, die ‚Globalisierung‘ oder die Suche nach den letzten Ursachen der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit lassen die sozio-ökonomischen Analysen von Marx nach dem Bankrott parteiamtlicher Marxologen wieder interessant erscheinen. Manche mögen Marx jetzt wieder lesen. Ein nicht unerhebliches Hindernis bei der Originallektüre stellt in es der berüchtigte alles andere als ‚didaktisch‘ zu nennende Schreibstil des Trierers im Londoner Exil dar. Jetzt liegt mit dem Buch von Reinhart Kößler und Hanns Wienold eine ausgezeichnete Leseanleitung, vor allem, aber nicht nur für Das Kapital vor. Informativ, sehr strukturiert, fern von jedem Dogmatismus und fundiert wird in die Marxsche Gesellschaftsanalyse eingeführt und auf die Frage eingegangen, welche Bedeutung diese heute (wieder) haben könnte.

Diese sehen die Autoren nicht zuletzt wissenschaftstheoretisch und politisch: „die Auseinandersetzung mit dem Marxschen Werk kann uns (...) zeigen, dass die Grenzen der akademischen sozialwissenschaftlichen Disziplinen einen hohen Grad von Willkür aufweisen, und dass die möglichst häufige Überschreitung dieser zuweilen eifersüchtig gehüteten Grenzen in aller Regel durch Erkenntnisgewinn belohnt wird“ (S. 263). Um es mit den Worten des Rezensenten zu sagen: Soziologen, die keine Ahnung von ‚Wirtschaft‘ haben, werden zu keiner überzeugenden Deutung der Sozialstruktur gelangen können.

Als studierenswert sehen die Autoren die Methoden der Marxschen Gesellschaftsanalyse an, weil ihre Kategorien nicht auf eine bestimmte vorfindbare geschichtliche Epoche, sondern auf je spezifische gesellschaftliche Situationen anzuwenden seien. Das impliziert, daß ‚Geschichte‘ nicht abgeschlossen, sondern fortschreitend ist. Damit wenden sie sich nur - was fast trivial wäre - gegen den spätestens durch den 11. September widerlegten Francis Fukuyama mit seiner These vom Ende der Geschichte nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, sondern auch gegen so ehrwürdige soziologische Autoritäten wie Talcott Parsons oder Niklas Luhmann, deren soziologische Konzeptionen auf die Folie des Kapitalismus festgelegt seien. Der Beitrag der ‚Systemtheorie‘ zur Gesellschaftswissenschaft wird mit diesem Hinweis keineswegs gering geschätzt, er wird lediglich relativiert. Mehrfach verweisen Kößler und Wienold darauf, daß Marx wissenschaftliche Gegner ernst nahm, die offensichtlich nicht apologetisch argumentierten. Seine Theorien wären undenkbar ohne die vorlaufenden ‚bürgerlichen‘ Nationalökonomen, vor allem Adam Smith und David Ricardo. Mit diesen Bemerkungen resümieren die Autoren die Frage, was wir heute von Marx lernen können, womit sie ihr Buch beenden. Zuvor finden sich drei aufeinander bezogene Hauptkapitel.

Im ersten Kapitel („War Marx ein Soziologe?“) wird kurz in das Gesamtwerk, vor allem aber in die Marxsche Methode eingeführt. Die strukturierte Einführung in das Marxsche Denken stellt dessen revolutionäres Erkenntnisinteresse ebenso heraus wie die verbreitete Fehldeutung von Marx als ‚Theoretiker des Kommunismus‘. „Marx war militanter Kommunist, aber seine theoretische Leistung liegt vor allem in der Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft“ (S. 21). Der dritte Teil schließlich stellt das Geschichtsverhältnis von Marx vor. Dabei wird rekonstruiert, was man als „eigentlich“ soziologischen Aspekt des umfangreichen Gesamtwerkes bezeichnen könnte. Verwiesen wird darauf, daß sich über eine antizipierte ‚Struktur der kommunistischen Gesellschaft‘ nur wenige Äußerungen bei Marx finden lassen. Bekanntlich richteten sich Karl Marx und Friedrich Engels scharf gegen sozialistische Utopien. Wo sich Äußerungen finden, die sich in die Richtung der späteren bolschewistischen Perversionen des humanistischen Grundansatzes interpretieren lassen, verweisen Kößler und Wienold darauf, daß sich die kritischen Kategorien bei Marx auch auf seine eigenen Texte anwenden lassen.

Fazit: Die Herkunft des Buches aus Studienmaterial der für ihre Wertschätzung didaktischer Aufbereitung (sozial)wissenschaftlicher Texte bekannten Fernuniversität Hagen ist nicht nur kein Mangel, sondern für Marx-Entdecker ein kaum zu überschätzender Vorteil. Die derzeit zu beobachtende kleine ‚Marx-Renaissance‘ könnte durch dieses einschränkungslos zu empfehlende Buch, das anders als andere Produkte des Verlags auch gut lektoriert wurde, gefördert werden.

Utopie kreativ, April 2002

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