Kulturindustrie ist alles Ein Interview mit dem Frankfurter Soziologen Heinz Steinert über Theodor W. Adorno, die Universität und über linke Kritiker

Heinz Steinert, Jahrgang 1942 und Professor für Soziologie an der Frankfurter Universität, nimmt in der Auseinandersetzung mit dem Philosophen Theodor W. Adorno eine Sonderrolle ein. Er ist weder ein Epigone noch gehört er zu den Revisionisten, die Adorno, den radikalen Gesellschaftskritiker, nachträglich zu einem intellektuellen Identitätsstifter der BRD zurechtmodeln wollen. In aller Unerbittlichkeit beschreibt Steinert das Totalwerden der Kulturindustrie, lehnt es aber ab, diese als schicksalhaften Verblendungszusammenhang zu verewigen. Widerstand ist dann möglich, wenn man sich, gerade als Kritiker, auch als Teil der Kulturindustrie begreift. In seinem Buch "Kulturindustrie" schreibt Steinert: "Es geht bei ›Kritik‹ also um den Zirkel der Erkenntnis, der sich daraus ergibt, dass wir immer mit den (Denk)Instrumenten der Herrschenden arbeiten müssen, dass wir schon unsere Begrifflichkeiten als abstrakt und ideologisch verdächtigen müssen."

Vor 30, 40 Jahren wurde Adorno rezipiert als großer Ideologiekritiker: als Kritiker des Wissenschaftsbetriebes, als Vertreter der musikalischen Avantgarde, als genialer Interpret Samuel Becketts, als Erneuerer der Pädagogik, als jemand, der so beliebte Schlagworte wie Kritik, Praxis, Fortschritt oder Freizeit auseinandernimmt. Das ist vorbei. Heute wird Adorno vor allem als Theoretiker der Kulturindustrie wahrgenommen. Wie ist es dazu gekommen?

Ich bin nicht ganz sicher, in welcher Öffentlichkeit es so ist, wie Sie das wahrnehmen. Wahr ist aber, dass Gesellschaftstheorie und Gesellschaftskritik heute öffentlich nicht mehr besonders interessieren. Statt Gesellschaftstheorie genügen uns ein paar griffige Formeln wie Risiko-, Erlebnis-, postindustrielle, Dienstleistungs-, Informations- oder Wissensgesellschaft. Und Gesellschaftskritik wird von den Politikern und Wirtschaftsfunktionären selbst betrieben, die das Volk in Trab und Hinnahmebereitschaft halten, indem sie immer wieder eine "Krise" ausrufen - besonders gern Krisen des Systems der sozialen Sicherung, damit es abgebaut werden kann. Außerdem haben wir es aufgegeben, uns Gedanken über "Befreiung" zu machen. Die Befreiung vom Realkommunismus (den die Kritische Theorie früher kritisiert hat als die meisten, die es hinterher schon immer gewusst hatten) hat uns auch davon befreit, Alternativen zum Kapitalismus und seinen populistischen Verwaltungen überhaupt nur denken zu sollen und zu können. Stattdessen setzen wir darauf, dass ein global durchgesetzter Radikalkapitalismus irgendwann mit "unsichtbarer Hand" allgemeinen Wohlstand, blauen Himmel und unerschöpfliche Ölquellen hervorbringen wird. Bis dahin tun uns die leid, die sich in dem etwas rauen Übergang nicht zu bereichern verstehen und hoffen, dass die Härten nicht zu lange anhalten.

Ich möchte noch mal auf die Kulturindustrie zurückkommen. Was verstand Adorno genau darunter?

Kulturindustrie bedeutet intellektuelle Produktion unter den Imperativen von Warenförmigkeit. Und das meint intellektuelle Produktion im weitesten Sinn: Architektur und Design, Wissenschaft und Technik, Städte- und Verkehrsplanung, Politik, Verwaltungsorganisation, Management-Doktrinen, zuletzt auch Kunst und Unterhaltung. Wie andere Waren, so werden auch Ideen, Pläne, Programme, Abläufe und Artefakte so hervorgebracht, dass sie sich gut verkaufen lassen, und nicht, wie es Aufgabe der Intellektuellen wäre, mit dem Ziel, zum Fortschritt der Menschheit beizutragen - was ganz bescheiden hieße: den Hunger und die Angst, die Konkurrenz und die bürgerliche Kälte, die Möglichkeiten der sozialen Ausschließung verringern zu helfen.
Dieser kritische Begriff von Kulturindustrie wurde im öffentlichen Gebrauch zweifach verdorben: Er wurde erstens eingeschränkt auf Fernsehen, Popmusik und Journalismus. Schon wenn man ihn auf Hochkultur wie z.B. das Kunstmuseum anwendet, finden die Leute das verwunderlich. Damit wurde Adornos Kritik verharmlost zum Nörgeln eines Kultursnobs, der halt mit der Populärkultur nichts anfangen kann und angeblich die Massen verachtet, die sich in billigen und verdummenden Vergnügungen suhlen statt Becketts "Endspiel" zu sehen. Zweitens wurde der Begriff noch positiv gewendet: In der Wissensgesellschaft ist nichts erstrebenswerter als ein Job in einer der Kulturindustrien, also in der Werbung, im Kulturmanagement, in der politischen PR, in den Beratungen aller Art.

Adornos 100. Geburtstag wird jetzt gefeiert, und die Flut der Sekundärliteratur, der Beiträge, Würdigungen, Ausstellungen zu Leben und Werk ist schon lange nicht mehr zu übersehen. Adorno ist selbst Bestandteil der Kulturindustrie geworden, ein Markenartikel. Was bedeutet es für die Kritik der Kulturindustrie, wenn sie selber Teil davon ist? Bleibt am Ende nur die Resignation und die Feststellung: No one gets out of here alive?

Das ist Adorno schon zu Lebzeiten passiert. Seine Bücher, seine Vorträge, seine Diskussionsbeiträge in Radio und Fernsehen waren nicht zuletzt gefragt als Bußpredigten - ein Genre, auf das kein gut ausgebauter Unterhaltungsapparat verzichten kann. Es gibt in der Tat keinen Ort außerhalb der Kulturindustrie. Deshalb kann kritisches Denken nur reflexives Denken sein: Erforschung der Herrschaft in unseren Selbstverständlichkeiten, in unseren Begriffen, und das schon in unseren Fragestellungen.

Wie sieht die Praxis dieses reflexiven Denkens aus?

Nehmen Sie etwa, um das kurz zu illustrieren, den scheinbar harmlosen und selbstverständlichen Begriff "Publikum". Er setzt jedoch voraus, dass es beim Ereignis "Kunst" oder auch "Unterhaltung" einen (großen) passiven Teil gibt, der unterhalten oder belehrt wird, und zwar von Profis, die davon leben wollen, die daher jenes "Publikum" zu einer Nachfrage veranlassen müssen. Es soll sich amüsieren, soll staunen, soll ergriffen sein oder außer Rand und Band geraten. Das alles aber in erster Linie zu dem Zweck, andere davon erfahren zu lassen, damit sie ihrerseits nachfragen. Das Publikum ist nur wichtig, weil es zahlreich sein, selbst zahlen und etwas an andere weiterempfehlen soll. Dort wo es, wie beim Fernsehen, nur mehr abstrakt, als Einschaltziffer auftritt, wird das eigenartige Verhältnis zwischen Produzenten und Konsumenten, das im Begriff Publikum eingefroren ist, besonders gut sichtbar. Indem wir als Publikum verstanden werden, das nur relevant ist als große Zahl und Träger von möglichst guter Nachrede, werden wir instrumentalisiert und verachtet.

Gegenfrage: Ist die Kulturindustrie nicht vielmehr grotesk überschätzt? Muss sich heutzutage die Linke die Kritik der politischen Ökonomie viel größer auf die Fahnen schreiben? Etwa: Vergesst mal Kunst und Fernsehen und schaut euch die realen Krisen des Kapitalismus und die realen Klassenkämpfe an - von Frankreich bis Argentinien!

Wenn man die Kulturindustrie auf Kunst und Fernsehen reduziert, wird sie in der Tat grotesk überschätzt. Wenn man vernünftig mit ihnen redet, glauben die meisten Leute kein Wort von dem, was Politiker im Fernsehen verkünden, oft nicht einmal den Tratsch der Boulevardpresse oder neuerdings des Internet. Das Fernsehen wird zum Abschlaffen verwendet. Kunst ist nach wie vor das Metier einer kleinen Subkultur der gebildeten Klasse und ansonsten eine Ware mit besonders irrationalen Preisen, die ein wenig der besonders obszön hohen Einkünfte abzuschöpfen imstande ist. Am interessantesten an ihr ist die Auseinandersetzung mit Kulturindustrie, die Subversion und die Widerständigkeit in immer neuen Wendungen. Das rettet die Welt nicht, aber es hält im glücklichen Fall doch fest, dass die herrschende Wirklichkeit, also die Wirklichkeit der Herrschenden, nicht die einzig denkbare ist.
Anders ist es, wenn man Kulturindustrie richtig, in Adornos Sinn versteht: Dann bestimmt Kulturindustrie unser Leben ganz materiell, zum Beispiel durch die gebaute, oft verbaute Welt, an der wir uns stoßen. Dann bestimmt sie die realen Klassenkämpfe durch Rechte, Ansprüche, Ressourcen und Möglichkeiten, die uns von Wirtschaft, Verwaltung und Politik eröffnet oder versperrt werden. Wenn die gebildete Klasse sich weiter vergrößert und Wissensökonomie einen zunehmend relevanten Sektor der Wirtschaft ausmacht, gewinnt Kulturindustrie weiter an materiellem Gewicht. Wenn man Kulturindustrie als die Form, als die Produktionsweise versteht, in der die Welt intellektuell bearbeitet wird, dann hat sie materielle Bedeutung. Als Horizont des Selbstverständlichen legt sie Hegemonie fest und bestimmt unsere Lebensmöglichkeiten ganz direkt.

Die einst an westdeutschen Unis sehr aktive Marxistische Gruppe hatte Adorno und seinen Kollegen vom Institut für Sozialforschung vorgeworfen: "Ihre ganze Theorie besteht ja in der Suche nach unausweichlichen Gründen für Unterwerfung." Gemeint war, dass Adorno und Horkheimer überall bloß noch Verfall und Verblendung ausmachen würden. Das Einzige was ihnen bliebe, sei der Kritizismus der Privilegierten. "Grand Hotel Abgrund" hat das der Kommunist Georg Lukács genannt. Ist die Radikalität Adornos in Wirklichkeit eine Scheinradikalität?

Die weiland "marxistischen Kritiker", K-Gruppen mit ihrer verspäteten Nachstellung einer militanten Arbeiterbewegung ebenso wie marxologische Diskutierer, die nur die Universität aufmischen wollten, haben in den siebziger Jahren seinerzeit genügend Unfug und Leid, nicht zuletzt bei ihren eigenen Mitgliedern, angerichtet. Der Wettlauf um möglichst radikale Aussagen (leider manchmal auch Taten) gehörte zu diesem Unfug. Der Mythos von Revolution und Kaderpartei hat sich schon in der französischen und in der russischen Revolution, beides bürgerliche Revolutionen, in denen ein Protoproletariat als Rammbock eingesetzt wurde, und in den blutigen Tugenddiktaturen und Bonapartismen, die ihnen jeweils folgten, eigentlich zur Genüge desavouiert. Davon ist nichts geblieben, das uns heute weiterhelfen könnte. Es ist heute klar, wie es übrigens schon zu Zeiten der K-Gruppen dem antiautoritären Flügel der Studentenbewegung klar war, dass nur die unorthodoxen Varianten von westlichem Marxismus, also die anarchistischen, genossenschaftlichen und sonstwie antiautoritären Bewegungen und die Theorien, die sich der ML-Orthodoxie entzogen, darunter an vorderster Stelle die Kritische Theorie, noch von Belang sind.
Adorno hat eine Theorie der Befreiung vertreten, die seiner Position als Intellektueller entsprach: Befreiung entsteht als Arbeit am "Fortschritt der Produktivkraft", daher als Kritik der Herrschaft, die diesen verhindert oder in "Fortschritt der Herrschaftsmittel" und "Fortschritt der Destruktivkraft" umlenkt. Diese Arbeit als Kritik der Selbstverständlichkeiten von Herrschaft erfordert höchste Anstrengung unter Einsatz aller Errungenschaften von Wissen und Können, die unter dieser Herrschaft entstanden sind. Es gibt kein Wissen und Können außerhalb. Befreiung geschieht innerhalb des Herrschaftssystems und mit seinen avanciertesten Mitteln. Es gibt keine "andere" Erfahrung und keine Ursprünglichkeit, die sich dem bürgerlichen Wissen und Können entgegensetzen ließe. Und es gibt, als "Dialektik der Aufklärung", auch keinen stabilen Zustand der Freiheit, denn mit der Stabilisierung schlägt Freiheit in neue Herrschaft um. Es gibt nur Momente der Befreiung, die immer wieder neu erarbeitet werden müssen. Marx hatte dafür das Wort "Revolutionierung" - ein langwieriger Vorgang, kein Putsch oder Staatsstreich, der in ein paar Wochen zu erledigen wäre. Adorno war pessimistisch, insofern er in seiner historischen Erfahrung die Kräfte der Reaktion siegen sah, insofern er die Frage "Sozialismus oder Barbarei" historisch geklärt sah: Es war zur Barbarei gekommen. In dem Stadium nach der bürgerlichen Barbarei war von denen, die sie - zufällig und ohne guten Grund - überlebt hatten, die Theorie der Gesellschaft und der Befreiung neu zu denken. Der frühe "Abschied vom Proletariat" und dieses klare Bewusstsein von Barbarei war und ist der Fortschritt, den die Kritische Theorie brachte und bewirkte.

Der Kritiker Wolfgang Pohrt hat vor 20 Jahren polemisch verkündet: "Verbessern, vertiefen, erweitern lässt sich Adornos Werk nicht, aber man kann es in der öffentlichen politischen Diskussion benutzen, wozu man aus Gründen der intellektuellen Selbsterhaltung sogar gezwungen ist." Gerichtet war das an die Adresse linker Akademiker, die zu Adorno unendlich viel Sekundärliteratur produzieren, dabei aber die Intention seines Werkes, nämlich radikale Kritik zu üben, verfehlen und Adorno in den öden Wissenschaftsbetrieb eingliedern. Ganz konkret: Sie sind Professor, Sie haben Sekundärliteratur verfasst - wie gehen Sie mit dem Widerspruch um, an der Universität Wissenschaft zu betreiben, deren Gegenstand eine radikale Wissenschafts- und Gesellschaftskritik ist?

Erstens sage ich mit Peter Rühmkorf: "In meinen Kopf passen viele Widersprüche." Das gehört zur Grundausstattung für reflexives Denken. Zweitens stammt die Aussage von Pohrt aus einer Situation, die nicht mehr gegeben ist: Wer sich heute in den Gesellschaftswissenschaften wie in der Philosophie mit der älteren Kritischen Theorie, also mit Adorno und Horkheimer beschäftigt, gefährdet seine Chancen in der jeweiligen Profession. Drittens ist der "öde Wissenschaftsbetrieb" ein kulturindustrielles Klischee im Dienst der Unbekümmertheit des Denkens: Wenn diese Theorie leben soll, muss sie auch tradiert und aktualisiert und dazu kritisiert und historisiert werden. Daran muss nichts öde sein. Ich habe sie in meinen Büchern mit Achtung und Verständnis, aber ohne Respekt eher zum Tanzen gebracht. Adorno hat seine Texte als Flaschenpost verstanden. Sie sind weder politische Programme noch utopische Entwürfe. Irgendwelche direkte Umsetzung in Gesellschaftsveränderung war ihm nicht plausibel. Die Idee wäre ihm höchst zuwider gewesen. Vernunft setzt sich, wie schon Freud wusste, in der Geschichte der Menschen, wenn überhaupt, dann sehr langfristig durch. Gute Theorie kann durch Interpretation und Kritik dessen, was als selbstverständlich und notwendig ausgegeben wird, den Gang der Unvernunft und die Kämpfe gegen sie sichtbar machen. Die Welt wird von machtvollen Interessen dauernd in ihrem Sinn verändert. Es kommt darauf an, das auch als gemacht zu verstehen und so den Möglichkeitssinn zu schärfen.

Felix Klopotek in: Jungle World 10. September 2003"