Nachruf auf Jürgen Hoffmann

Am 29. September verstarb Jürgen Hoffmann. Er gehörte 1970 zum Gründungskreis der PROKLA, die er nicht nur als Autor, sondern auch als langjähriges Redaktionsmitglied prägte. Mit der PROKLA blieb er auch nach seinem Ausscheiden aus der Redaktion eng verbunden, zuletzt als Mitglied im Redaktionsbeirat.
Jürgen Hoffmann wurde 1944 in der Kleinstadt Jerxheim bei Helmstedt in Niedersachsen geboren. Er ging dort zur Schule und leistete 1964/65 seinen Wehrdienst ab. Soweit ein normales Schülerleben aus diesen westdeutschen Jahren. Der grundlegende Wandel begann mit der Wahl des Studienortes. Er schrieb sich an der Freien Universität in Westberlin ein, einer Hochschule, von der schon damals bekannt war, dass sie politischer war als andere. Die Studierenden besaßen größere Rechte als anderswo und machten auch regen Gebrauch davon. Per Urabstimmung wurde z.B. 1963 ein ASTA-Vorsitzender (der spätere Regierende Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen) und das ihn stützende Studentenparlament abgewählt, weil es damals als mit dem Gründungsgeist der FU für unvereinbar gehalten wurde, dass ein Mitglied einer schlagenden Verbindung die Studentenschaft der FU repräsentierte.
Am Otto-Suhr-Institut (OSI) studierte Jürgen Hoffmann Politische Wissenschaft mit den Schwerpunkten Innenpolitik und politische Ökonomie. Sein Studium fiel zusammen mit der Entwicklung der Studentenbewegung von ihrem Beginn im Jahr 1965 bis zu ihrer Endphase 1970. In diesem Jahr legte er seine Diplomprüfung ab, womit er auch ein gängiges Klischee widerlegte, wonach man in dieser Phase an der FU nicht ernsthaft habe studieren können. Es war nur etwas anstrengender als in normalen Zeiten, denn neben dem prüfungsrelevanten Stoff galt es – besonders zwischen 1968 und 1970 – die Unmassen von hektographierten Papieren zu lesen, die von den verschiedensten politischen Gruppierungen zu theoretischen und strategischen Fragen antikapitalistischer Politik geschrieben wurden, bzw. sich an deren Anfertigung zu beteiligen. Eigentlich hat es keine günstigere Zeit für ein Studium der politischen Wissenschaft gegeben, Theorie und Praxis, Reflexion und Engagement zu verbinden als die späten 60er Jahre im damaligen Westberlin. Jürgen war allerdings nicht der Auffassung, dass es die Aufgabe von Intellektuellen sei, sich als selbsternannte Avantgarde an die Spitze einer breiten politischen Bewegung zu setzen, deren erste Anzeichen erkennbar waren und deren weiteres Anwachsen man damals glaubte sicher vorhersagen zu können. Jürgen betrachtete es eher als seine Aufgabe, über die Bedingungen der Möglichkeit der als notwendig erachteten gesellschaftlichen Umwälzungen gründlich nachzudenken und dazu beizutragen die wissenschaftlichen Voraussetzungen für eine kritische Gesellschaftsanalyse zu schaffen. Zu diesen Voraussetzungen gehörten in erster Linie die Wiederaneignung und Rekonstruktion der Marxschen Theorie, d.h. ihre Entkleidung von ideologischen Interpretationen und groben Verkürzungen, die sie im Verlauf ihrer politischen Wirkungsgeschichte im 20. Jahrhundert erfahren hatte.
Wir sind uns wohl zuerst 1969 begegnet, in der Redaktionskonferenz der am OSI herausgegebenen Zeitschrift Sozialistische Politik, einem Produkt der Studentenbewegung mit dem Untertitel Organ kritischer Sozialwissenschaft. Als eine kleine Minderheit von SED-Sympathisanten in der strömungsübergreifenden Redaktion mit einem Trick die Zeitschrift unter ihre Kontrolle brachte – sie sicherten sich heimlich die Namensrechte –, gehörte Jürgen zum Gründungsteam des Gegenprojekts Probleme des Klassenkampfs (der späteren PROKLA), und bald auch zum Kern der Redaktion. Im Unterschied zu heute bestand die Arbeit der Redaktion anfangs weniger im Organisieren und Redigieren als im Schreiben von Beiträgen. Es erschienen nur wenige aber gleichwohl gewichtige Artikel, die häufig das Produkt von Arbeitskollektiven waren. An vielen dieser frühen Artikel war Jürgen maßgeblich beteiligt. Wichtige Themen waren die Rekonstruktion der Kritik der politischen Ökonomie, die Klassenanalyse, die Rolle des Staates, die Politik und Praxis der Gewerkschaften, Arbeitskämpfe und Arbeitsbedingungen im Betrieb.
Nach seinem Diplom war Jürgen zunächst wissenschaftlicher Assistent am OSI, danach, von 1976 bis 1980, geschäftsführender Redakteur der PROKLA. Am OSI promovierte Jürgen 1978 mit dem Thema „Ökonomischer oder politischer Konjunkturzyklus? Ökonomischer Zyklus, staatliche Wirtschaftspolitik und Gewerkschaften in der Bundesrepublik“. In dieser Arbeit versuchte er die Ergebnisse jener in den 70er Jahren betriebenen Rekonstruktion der Kritik der politischen Ökonomie mit der empirischen Analyse der Bundesrepublik und einer Auseinandersetzung mit konkurrierenden krisentheoretischen Erklärungen zu verbinden.
Nach seiner Promotion übernahm Jürgen verschiedene Gast- und Vertretungsprofessuren an der FU Berlin, in Marburg und in Hannover. Nachdem er sich 1981 habilitiert hatte, erhielt er 1982 eine Professur an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik, einer Einrichtung, die auf die 1948 von Gewerkschaftern gegründete „Akademie für Gemeinwirtschaft“ zurückging (im Jahr 2005 wurde diese Hochschule in die Universität Hamburg integriert). Von dieser Wirkungsstätte aus, die er nicht mehr verlassen hat, entfaltete Jürgen eine außerordentlich reiche Lehr-, Vortrags- und Publikationstätigkeit.
Was ihn schon vorher ausgezeichnet hatte, sorgfältig ausgearbeitete Texte zu schreiben mit differenzierender Argumentation und gleichwohl klaren Positionen, kam nun noch stärker zum Tragen. Während es anfangs in den 70er Jahren noch um die theoretische Vergewisserung der angemessenen Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie gegangen war, traten bald Analysen des westdeutschen Kapitalismus, der Staatstätigkeit und der Gewerkschaftspolitik in den Vordergrund (man vgl. z.B. die von Jürgen mit verfassten Aufsätze in den PROKLA Nummern 2, 13 und 16). Aus der Zeit der Studentenbewegung hatten kollektive Arbeitsformen überdauert, und so sind die meisten seiner Arbeiten in den 70er Jahren Kollektivprodukte verfasst. Mit dem 1979 erschienenen Buch Vom Wirtschaftswunder zur Wirtschaftskrise – Politische Ökonomie der Bundesrepublik, das er zusammen mit Elmar Altvater und Willi Semmler geschrieben hat, wurde gewissermaßen die Summe der Arbeiten aus den 70er Jahren gezogen.
In den 80er Jahren bilden sich dann zwei Schwerpunkte seiner Arbeit heraus, zum einen die Untersuchung der Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften in der Bundesrepublik und zum anderen die kritische Analyse von staatlicher Wirtschafts- bzw. kapitalistischer Modernisierungspolitik. Begleitet waren diese Analysen von kontinuierlicher Theoriearbeit, der er stets einen wichtigen Stellenwert in seinem wissenschaftlichen Arbeitsprogramm eingeräumt hatte (siehe z.B. den von ihm 1983 herausgegebenen Band Überproduktion, Unterkonsumtion, Depression – Analysen und Kontroversen zur Krisentheorie).
In den 90er Jahren kommt ein weiteres Thema hinzu, die ökologische Frage, die Jürgen Hoffmann an unterschiedlichen Gegenständen (der Kreislaufwirtschaft, ökologischer Betriebswirtschaft oder am Beispiel der Atomwirtschaft) diskutiert. Es ist aber auch eine Zeit verstärkten Engagements im Vorfeld der Gewerkschaften. Eine besondere Bedeutung bekommt für ihn der ‚Hattinger Kreis’, eine Gruppe von gewerkschaftlich interessierten Sozialwissenschaftlern, die sich seit Ende der 80er Jahre regelmäßig treffen, um zu kritischen Empfehlungen für die notwendige Modernisierung der Gewerkschaften zu gelangen. Das Resultat dieser Überlegungen wurde in dem Buch Jenseits der Beschlusslage. Gewerkschaften als Zukunftswerkstatt zusammengefasst, das Jürgen zusammen mit Reiner Hoffmann, Ulrich Mückenberger und Dietrich Lange 1990 herausgegeben hat.
Darin werden alle wichtigen Problemfelder der Gewerkschaften angesprochen, zunächst die gravierende Diskrepanz zwischen Mitglieder- und Beschäftigungsstruktur und die ihnen zugrunde liegenden Umbrüche in den Sozialbeziehungen. Es werden darin aber auch die Veränderungen des für die Bundesrepublik bis in die 70er Jahre maßgeblichen Produktionsmodells bzw. Akkumulationstyps, die Tertiarisierung der Erwerbsarbeit und die Internationalisierung des Kapitals thematisiert. Die Autoren scheuen sich auch nicht, einen festen Traditionsbestand der Gewerkschaft, die keynesianische Nachfragepolitik zu problematisieren und schlagen vor, diese mit einer „gestaltenden Angebotspolitik“ zu kombinieren. Der thematisch reichhaltige Band schließt mit einem langen Abschnitt über künftige Entwicklungen und die Zukunftsaufgaben der Gewerkschaften. Manches davon hat Eingang in die gewerkschaftlichen Programme gefunden, etwas weniger davon wurde in der Praxis beachtet. Aber es ist ein Verdienst des Hattinger Kreises, und Jürgen hat daran einen großen Anteil, die seit Längerem zu beobachtende Lockerung in der Kooperation zwischen Gewerkschaften und Wissenschaft aufgehalten und die Aufmerksamkeit beider Seiten füreinander neu geweckt zu haben.
Seit den 90er Jahren publizierte Jürgen Hoffman eine Vielzahl von Texten, von denen hier lediglich zwei erwähnt werden sollen, da sie die Breite seiner Forschungstätigkeit belegen und zudem auch die spezifische Verschränkung der Perspektiven aufweisen, die sein interdisziplinärer Ansatz aus Politikwissenschaft, Politischer Ökonomie und Soziologie so fruchtbar gemacht hat. In dem Buch Arbeitsbeziehungen im Rheinischen Kapitalismus. Zwischen Modernisierung und Globalisierung (2006) werden noch einmal die zentralen Themen, die Jürgen in den letzten Jahren vorrangig bearbeitet hat, zusammengeführt.
Dies Buch konzentriert sich einerseits auf eine Untersuchung der Arbeitsbeziehungen in Deutschland, andererseits auf eine politökonomisch fundierte Analyse von deren Rahmenbedingungen. In Anlehnung an Claus Offe skizziert Hoffmann zunächst die in der ‚Moderne’ stattfindenden Prozesse der Entkoppelung von Akteuren und sozialen Teilsystemen. Mit dieser Autonomisierung gehe eine Optionserweiterung, Spezialisierung und funktionale Differenzierung einher. Für die daraus folgenden Koordinations- und Kompatibilitätsprobleme hätten sich die drei Lösungsformen Staat, Markt und Gemeinschaft herausgebildet, die sie jede für sich aber nicht leisten könne. Es komme daher auf deren spezifische, komplementäre Verknüpfung an. Dies geschieht in historisch unterschiedlichen Formen, die sich in den „varieties of capitalism“ ausdrücken.
Von besonderem Interesse war für Jürgen Hoffmann dabei, wie sich dies für die Gewerkschaften ausgewirkt hat. Als intermediäre Institutionen zwischen Staat und Individuum übernehmen sie allgemeine Regulierungsfunktionen und als Kollektivakteure die Interessenvertretung der lohnabhängig Beschäftigten. In Deutschland haben sich die Gewerkschaften dabei lange Zeit als Klassenorganisation verstanden, die nicht nur die Verteilung der Resultate des Produktionsprozesses, sondern auch die Grundlagen des Wirtschaftssystems in Frage stellen. Von diesem Selbstverständnis haben sie sich inzwischen allerdings verabschiedet. Während es in der Prosperitätsphase der Nachkriegszeit Vollbeschäftigung gab, die den Gewerkschaften eine große Verhandlungsmacht bescherte, die zu Reallohnzuwächsen und der allgemeinen Anerkennung von Branchen- bzw. Flächentarifverträgen führte, hat sich die Lage mit der Massenarbeitslosigkeit der 80er Jahre grundlegend verändert. Schließlich führten die in den 90er Jahren sich verstärkende Globalisierung und die Liberalisierung des europäischen Marktes zu verschärfter Konkurrenz und zu weiterer Internationalisierung, wobei die Unternehmen alle Instrumente der internen und externen Flexibilisierung einsetzten. Die Deregulierung der Kapitalmärkte und die einseitige Orientierung am shareholder value verstärkte den Druck zu immer höheren Profiten, der von den Unternehmen an die Belegschaften weitergegeben wurde, was die Gewerkschaften nur noch mit einer ausgesprochen defensiven Politik begleiteten. Im Grunde genommen haben die Gewerkschaften bis heute keine überzeugenden Antworten auf diese Entwicklungen gefunden. Der rapide Rückgang der Mitgliederzahlen, die Erosion der Tarifautonomie und die mehr als ein Jahrzehnt anhaltende Stag nation, teilweise auch der Rückgang der Nettoreallöhne sind die markantesten Auswirkungen dieser Prozesse. „Die Krise der Gewerkschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird so auch ein Teil der Krise eines Kapitalismustyps, so wie die Erosion seiner Institutionen Teil der Krise der Gewerkschaften ist“ fasste Jürgen Hoffmann zusammen.
Nur sehr reduziert ist damit die außerordentlich vielschichtige Argumentation Jürgen Hoffmanns umrissen. Wer die vergleichende Kapitalismus-Debatte (varieties of capitalism) und die Positionierung des ‚Rheinischen Kapitalismus’ nachverfolgen will, wird ebenso bedient wie jemand, der sich über Entstehungsgründe, Ausmaß und Formen der Globalisierung vergewissern möchte. Das Buch beeindruckt durch den breiten interdisziplinären Ansatz und die Fülle des von ihm ausgebreiteten Materials.
Kurz vor seinem Tod hat Jürgen sein letztes großes Vorhaben, die überarbeitete 3. Auflage seines 1996 zuerst erschienenen umfangreichen Buches Politisches Handeln und gesellschaftliche Struktur fertig gestellt. Er hat es im Untertitel nicht mehr Grundzüge deutscher Gesellschaftsgeschichte, sondern Politische Soziologie der europäischen und der deutschen Geschichte genannt, um sich damit noch stärker vom Hauptstrom der etablierten Geschichtswissenschaft abzugrenzen, natürlich auch, um interessierte Missverständnisse der Konkurrenz abzuwehren, die das Wildern eines Außenseiters im eigenen Terrain eher mit Missvergnügen oder Desinteresse beobachtet. Gleichwohl ist der Mut zu bewundern, sich neben der zuständigen Zunft mit einer Arbeit über die letzten 300 Jahre deutscher und europäischer Geschichte behaupten zu wollen, über die es eine kaum überschaubare Fülle von allgemeinen und speziellen Darstellungen gibt.
Sein besonderer Ansatz, mit dem er sich von der etablierten Geschichtsschreibung absetzt, ist eine ‚politische Soziologie der Geschichte’ (17), womit er die verbreitete Ausdifferenzierung von Politik, Ökonomie und Gesellschaft für die Darstellung der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft vermeiden möchte; „Trennungen, die auf Basis einer kritischen Gesellschafts- und Politiktheorie durchaus problematisch sind“ (25). Mit dieser anspruchsvollen Synthese, möchte er andere Akzente setzen als die herrschende Lehre der Sozialgeschichtsschreibung. Er stellt weniger beachtete Positionen ins Zentrum, wenn dies durch sein Konzept gerechtfertigt wird und kommt so auch für den historisch versierten Leser zu überraschenden Einsichten.
Das Schwergewicht des Buches liegt auf der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der ausschließlich die deutsche Entwicklung betrachtet wird. Im davor liegenden Abschnitt finden sich auch längere Darstellungen zur Französischen Revolution von 1789, zur englischen Entwicklung sowie zum Verlauf und der Vorgeschichte der russischen Oktoberrevolution 1917. Diese Darstellungen dienen einerseits der kontrastierenden Typisierung, andererseits sind sie nach Meinung Jürgen Hoffmann zum Verständnis der folgenden deutschen Entwicklung wichtig. Im fünften und letzten Abschnitt des Buches, in dem es um die Entwicklung der Bundesrepublik geht, kann er auch eigene Forschungsergebnisse einfließen lassen, was diesen Text hinsichtlich seiner argumentativen Stringenz wie in seiner Geschlossenheit zu einem besonders gelungenen Kapitel werden lässt.
Das Buch ist aus einer Einführungsvorlesung für Studierende der Politikwissenschaft, Ökonomie und Soziologie entstanden, um ihnen gewissermaßen den ‚historischen Blick’ zu vermitteln und um damit die sich leicht einstellenden affirmativen Vorstellungen der bloßen Gegenwartsbetrachter zu transzendieren. Insbesondere der funktionelle Institutionalismus der etablierten Politikwissenschaft neigt zur Legitimation des Faktischen. Dagegen hilft der historische Blick, genauer: der kritisch historische Blick. Und diesen zu schärfen, ist Jürgen Hoffmann mit seinem Buch hervorragend gelungen.
Jürgen litt seit mehreren Jahren an Krebs. Dem Krebs wollte er nicht nur physisch widerstehen, er wollte auch seine Lebensführung, seine vielfältigen Aktivitäten gegen den Krebs verteidigen. Wenn er seine vielen FreundInnen in Rundmails über seinen Zustand informierte, überschrieb er diese Mails mit dem alten Schlachtruf: „Lotta continua – Der Kampf geht weiter“. Wie er kämpfte, auf allen Ebenen, das war bewundernswert. Jürgen ließ es sich nicht nehmen zu forschen, zu schreiben, auf Konferenzen zu sprechen und sich nicht zuletzt auch immer wieder für die PROKLA zu engagieren, deren Redaktionsbeirat er bis zu seinem Tod angehörte. Auch weitere gesundheitliche Rückschläge konnten ihn nicht aufhalten. Im Sommer des vergangenen Jahres erlitt er – unterwegs im Zug – einen Schlaganfall. Er konnte sich gut davon erholen und blieb auch weiter aktiv.
So lange es irgendwie ging, hatte Jürgen versucht weiter an der Hochschule zu unterrichten, auch wenn es nur ein einzelnes Seminar war. Er genoss den Kontakt und die Auseinandersetzung mit den Studierenden. Und diese genossen wohl auch seinen Unterricht. Eine Studentin hatte ihm zu seiner Emeritierung geschrieben:
„... ich habe in Ihrer Vorlesung Politische Geschichte gesessen. Wie anschaulich Sie damals das Mittelalter beschrieben haben („... in den Städten hat es richtig gestunken...“) gehört komischer Weise zu einer meiner anschaulichsten Erinnerung. Ihre Art zu lehren war kurzweilig, humorvoll, detailreich, einprägsam – eine Freude. ...“
Erst in diesem Jahr wurde er in seinem 65. Lebensjahr emeritiert. Am 9. Juli hielt er seine Abschiedsvorlesung, die er noch zu einem Aufsatz für die PROKLA ausarbeiten wollte. Wie er sich seine Zukunft vorstellte, beschrieb er nach dieser Vorlesung in einer Rundmail an seine Freunde und Freundinnen:
„Schade, jetzt wird mir dieses Lehren nicht mehr möglich sein – schon aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr. Das werde ich sehr vermissen. Umso mehr kann ich mich jetzt der Forschung widmen, was ich auch machen werde. Ich wünsche Euch alles Gute – hoffentlich seid Ihr satt geworden, Wein jedenfalls gab es noch genug – und ich hoffe, dass wir uns bei welchen Gelegenheiten auch immer, bald wieder sehen.“
Das von ihm gewünschte Wiedersehen gab es mit den meisten leider nicht mehr. Nur ohne ihn konnten sich seine Familie, seine FreundInnen und KollegInnen zu einer Abschiedsfeier treffen – mit viel Wein und gutem Essen, so wie er sich das gewünscht hatte.

Rudi Schmidt in: PROKLA 157 "Der blutige Ernst: Krise und Politik"