Politische Ökonomie der Unsicherheit Ein Gespräch mit Birgit Mahnkopf und Elmar Altvater über ihr neues Buch "Globalisierung der Unsicherheit: Arbeit im Schatten, schmutziges Geld und informelle Politik"

Sozialismus: Den krisenhaften Transformationsprozess des Kapitalismus seit Ende der 1970er Jahre fasst ihr als eine globale "Informalisierung" von Arbeit, Geld und Politik, die tiefgreifende Veränderungen bisher zentraler gesellschaftlicher Verhältnisse einschließt. Zum einen löst sich die fordistische Regulationsweise auf. Die aus der Krise des Fordismus resultierenden Informalisierungsprozesse werden ihrerseits durch die Globalisierung beschleunigt und verallgemeinert. Dazu kommen die labilen bis desaströsen Verhältnisse in den Transformationsgesellschaften Mittel- und Osteuropas sowie die anhaltenden Krisen und Erosionen in Ländern der Peripherie. Lassen sich diese unterschiedlichen Entwicklungsprozesse unter dem Dach globaler Informalisierungsprozesse subsumieren?

Mahnkopf: Der gegenwärtige Globalisierungsschub hat seinen Anstoß nicht nur durch die Krise des Fordismus erhalten, sondern auch durch den Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods 1972, die nachfolgende Neuausrichtung weltwirtschaftlicher Institutionen wie IWF und Weltbank, die Hegemonie des Neoliberalismus. Bei den von uns untersuchten Informalisierungsprozessen handelt es sich um tiefgreifende Transformationen, die bis zu Veränderungen in der Geldform führen. Diese Veränderungen stellen sich in unterschiedlichen Weltregionen zwar unterschiedlich dar, doch letztlich sind alle Gesellschaften denselben Mechanismen von Deregulierung, Abbau gesellschaftlicher Institutionen bis hin zur Entstaatlichung unterworfen. Der Begriff des "informellen Sektors" taucht erstmals in den 1970er Jahren in den Ländern des Südens auf, also zeitgleich mit dem Ende des "Entwicklungsstaates". Doch selbstverständlich haben die Folgen der Schuldenkrise der 1980er Jahre sowie die Politik der Strukturanpassung (also Deregulierung und Liberalisierung) von Seiten des IWF und der Weltbank Prozesse der Informalisierung von Arbeit, Geld und Politik in den so genannten Entwicklungsländern weiter forciert. In den Transformationsländern Mittel- und Osteuropas hingegen, die es in den "realsozialistischen" Zeiten ja nur zu einem "halbierten Fordismus" gebracht haben, setzt die Erosion staatlicher Strukturen in der Tat nach 1989 ein. Doch geschieht dies in so großem Maße, dass die "Informalität" heute gleichsam zum "Normalzustand" vieler dieser Gesellschaften geworden ist.

Die entscheidende Zäsur findet also in den 1970er Jahren statt und nicht erst 1989. Aber gerade die Rolle des Staates und die Strukturen der Zivilgesellschaft sind zwischen Metropolen, staatssozialistischen Ländern und Peripherie sehr unterschiedlich, folglich müssten es auch die Prozesse der Informalisierung sein.

Altvater: In den "Grenzen der Globalisierung"1 haben wir drei staatliche Formen des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg unterschieden: den keynesianischen Interventionsstaat in den Metropolen, den Entwicklungsstaat in den Ländern des Südens, ausgerichtet auf Entwicklungsplanung, was ja ein Konzept auch von IWF und Weltbank in jener Zeit war, und den realsozialistischen, planenden Staat im Osten. Diese drei Formen, in denen der Staat auf die Gesellschaft gewirkt hat und in die Ökonomie intervenierte, lösen sich seit den 1970er Jahren auf. Im Jahr 1989 wurde ein Ausrufezeichen hinter die schon weit fortgeschrittene Transformation des so genannten "Fordismus" gesetzt. Nun bilden sich Formen heraus, die nicht mehr das vermitteln, was gesellschaftliche Formen vermitteln müssen: nämlich Stabilität und Sicherheit. Wir bezeichnen sie mit einem paradoxen Begriff als "informelle Formen", um die Instabilität hervorzuheben.

Mahnkopf: Die Intensivierung und Beschleunigung von Informalisierungsprozessen in den 1990er Jahren resultieren aus der Durchsetzung von globalen Normen, darunter die von Wettbewerbsfähigkeit, Standortsicherung und Vermarktlichung von allem und jedem. Die Konfliktdynamik zwischen globalen Normen, die nicht von allen Gesellschaften und allen Individuen erfüllt werden können, und gesellschaftlich wie kulturell spezifischen Normen der Überlebensfähigkeit und der individuellen und gesellschaftlichen Reproduktion, fassen wir als Informalisierung: Formal und gesetzlich geltende Normen, die die Vergesellschaftung durch Arbeit und Geld regeln, werden konterkariert und unterminiert, und dies hat selbstverständlich Folgen für die Politik: auch Politik findet in zunehmendem Maße informell statt.

Wie ordnet sich die Peripherie in diese übergreifende Dynamik ein? Der Zeitpunkt, mit dem ihr den Prozess der Informalisierung einsetzen lasst, markiert für etliche Länder des Südens die Schwelle der Dekolonialisierung. Heute sind sie von flächendeckender Informalisierung betroffen. Verweist das nicht auf unterschiedliche Verlaufsformen?

Altvater: Bei der Peripherie muss man in der Tat zwischen denjenigen Staaten unterscheiden, die beispielsweise in Afrika im Verlauf der 1950er bis zu den 1960er Jahren dekolonialisiert und unabhängig wurden und dann eine Staatlichkeit aufzubauen versuchten, auf der einen Seite, und Lateinamerika auf der anderen Seite. Die meisten lateinamerikanischen Staaten sind seit dem frühen 19. Jahrhundert unabhängig, konnten sich im 20. Jahrhundert unabhängig entwickeln und brachten es in Ansätzen zu fordistisch-sozialstaatlichen Regelungen, deren Erosion in der Schuldenkrise der 1980er und in den schweren Finanzkrisen der 1990er Jahre beschleunigt fortschreitet. Für diese Länder kann man das Modell des planenden Entwicklungsstaates für die Epoche bis Ende der 1970er Jahre zugrunde legen, was für Afrika und Asien nicht in gleicher Weise zutrifft: hier entsteht der Begriff des "informellen Sektors". Die ILO verwendet ihn zuerst bei Analysen von Arbeitsverhältnissen in Kenia und später auch in Westafrika Mitte der 1970er Jahre. Die Grundannahme lautete zunächst: Die entkolonialisierten Gesellschaften vermögen sich im Rahmen einer kapitalistischen Entwicklung zu modernisieren. Modernisierung bedeutete dabei immer Industrialisierung, neue Technologien, Aufbau der Institutionen, wie sie die moderne westlich-kapitalistische Welt beispielhaft entwickelt hatte. Doch die Geschichte wiederholt sich nicht. Die Entwicklung verlief in Afrika anders als erwartet. Der nun entdeckte informelle Sektor sollte als Reserve herhalten, aus der sich Kräfte der Modernisierung speisen könnten. Aber auch diese in den 1970er Jahren weit verbreitete Hoffnung platzte in den 1980er Jahren. Seitdem gibt es eine Vielzahl von Analysen über "informelle Arbeit", die feststellen, dass nicht nur Modernisierungsmangel zum Entstehen dieser informellen Sektoren führt, sondern eine Vielzahl anderer Gründe, die wir als Globalisierung der Unsicherheit und Informalisierung von Arbeit und Geld in ihrem Zusammenhang analysieren.

Die Globalisierung von Normen und die damit auftretenden Normenkonflikte bringen ein hegemoniales Verhältnis zum Ausdruck: Die Metropolen geben die Regeln und Standards vor, an denen sich dann die Verhältnisse in der Peripherie messen lassen müssen. Misst sich der Grad an Informalität letztlich am Abbau von Staatlichkeit?

Mahnkopf: Es geht nicht nur um staatlich gesetzte Normen und Institutionen, sondern auch um gesellschaftliche Normen, die grundlegend sind für das Zusammenleben. Wir beschreiben dies ausführlich in unserem Buch im Kapitel über die Herausbildung informell vernetzter Gegengesellschaften. Die Informalisierung kann nämlich im Einzelfall so weit getrieben werden, dass Gegen- oder Subnormen entstehen, die dann zu denjenigen Normen werden, die das Handeln von Menschen in bestimmten gesellschaftlichen Milieus bestimmen und strukturieren. Dies ist beispielsweise dort der Fall, wo das Gewaltmonopol vom Staat auf private Akteure übergegangen ist und das "Gesetz der Diebe" die gesellschaftlichen Austauschprozesse reguliert. Doch andererseits gibt es auch Formen von Staatlichkeit jenseits der uns bekannten staatlichen Strukturen: Formen von Suprastaatlichkeit (etwa auf der Ebene der Europäischen Union) oder globaler Staatlichkeit auf der Ebene des Weltmarktes (etwa durch die Normen und Standards, die von der WTO gesetzt werden).

Ausführlich analysiert ihr die Entwicklung informeller Arbeitsverhältnisse in den kapitalistischen Metropolen. Hier ist zu differenzieren zwischen Ressourcen informeller Arbeit, die es immer im Kapitalismus gegeben hat und die mit ihm kompatibel sind - z.B. die Eigenarbeit der privaten Haushalte, der dritte Sektor etc. -, und zwischen informellen Arbeitsverhältnissen und Sektoren, die die Normalität und Formalität des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsgefüges tangieren.

Mahnkopf: Daher unterscheiden wir zwischen marktbezogener und nicht-marktbezogener informeller Arbeit. Letzteres ist ja unter bestimmten politischen Vorzeichen positiv aufgewertet worden als quasi selbstbestimmter Sektor von Arbeit. Aber das stellen wir nicht ins Zentrum unserer Untersuchung. Uns geht es um die marktbezogenen Formen informeller Arbeit, die eher Ausdruck einer "Überlebensökonomie" sind, mit ihren veränderten Geldformen, Geldsubstituten bis hin zu Tauschringen, und um die Frage, wie sich unter den Bedingungen eines in allen Weltregionen schrumpfenden Anteils formeller Arbeit die mit informellen Arbeitsverhältnissen einhergehende soziale und ökonomische Unsicherheit verringern ließe.

Altvater: Um den Unterschied zwischen marktbezogener und nicht-marktbezogener informeller Arbeit plastisch herauszuarbeiten, gehen wir zurück zur Darstellung der Auflösung präkapitalistischer Arbeitsformen in die protoindustrielle kapitalistische Phase der Informalisierung. Dadurch kann die Informalisierung von Arbeit als wirksame Tendenz für die gesamte Geschichte des Kapitalismus aufgezeigt werden. Auch innerhalb des formellen Bereiches kapitalistischer Lohnarbeit finden immer wieder Auflösungstendenzen in Richtung Informalisierung statt, die aber durchaus noch nicht aus dem Normensystem der Lohnarbeitsverhältnisse herausfallen. Nur so können Arbeitsverhältnisse und die Auflösung von Tarifverträgen wie gegenwärtig in Ostdeutschland analysiert werden, die noch nicht wirklich informell, aber auch im strikten Sinne nicht formell sind, sondern Zwischenformen darstellen.

In dieser Argumentation steckt eine pointierte These über die Formation und Perspektive des Kapitalismus. Ihr setzt euch klar ab von der These eines durchgesetzten und stabilen Postfordismus oder High-Tech-Kapitalismus. Dafür fehlen eurer Einschätzung nach alle systemischen Merkmale der Kohärenz und Kompatibilität der sozioökonomischen Verhältnisse. Zugleich liefert ihr Erklärungen für die seit den 1970er Jahren lang anhaltende krisenhafte Übergangsphase. Deren relative Stabilität erklärt sich über die Ausfächerung von Informalität.

Altvater: Für das Feld der Arbeit kann man in gewisser Hinsicht von einer relativen Stabilität der Informalität sprechen, solange Menschen noch irgendwo und irgendwie ihren Lebensunterhalt erarbeiten können. Aber die Formen, die sich auf der Ebene des Geldes herausbilden, sind total instabil. Die Finanzkrisen der letzten Jahre oder die Desintegrierung des Geldsystems durch Korruption, Geldwäsche und verbrecherische Praktiken haben in etlichen Fällen zu regelrechten Staatsauflösungen und sozialen Zerstörungen geführt. Eine Aussicht, auf diesem Gebiet mit den Krisen auf Dauer fertig zu werden und wieder relative Stabilität zu erlangen, ist nicht gegeben.

Mahnkopf: Im Übrigen sind lange Phasen der Instabilität in der Geschichte des Kapitalismus nichts Außergewöhnliches. Die Herausbildung des Fordismus hat auch über ein halbes Jahrhundert gedauert. Insofern kann man auch umgekehrt formulieren: Möglicherweise stellt sich die Phase des Fordismus als eine sehr kurzzeitige Episode in der Geschichte heraus. Die Normalität informeller Beziehungen reichte ja bis weit in das 20. Jahrhundert, und die Verknüpfung von Erwerbstätigkeit mit Stabilität und rechtlich einklagbarer Sicherheit, die wir mit Fordismus assoziieren, macht eine relativ kurze Phase aus. Und selbst bei der extraordinären Konstellation für den Fordismus dürfen die beiden verheerenden Weltkriege im 20. Jahrhundert nicht außer Betracht bleiben.

Aber es gibt Positionen, die das, was ihr als Informalisierung beschreibt, eher als Bestandteil eines neuen Typus von Regulation fassen: Entgrenzung und Vermarktlichung von Arbeitsbeziehungen als Charakteristika eines postfordistischen finanzgetriebenen-flexiblen Kapitalismus. Nehmen wir als Beispiel Zielvereinbarungen wie im 5000x5000- Modell von VW: Ist das ein Ansatz zur Reformalisierung der Arbeitsverhältnisse oder stellt dies eine geordnete Informalisierung dar?

Mahnkopf: Ist dies nicht zu kleinteilig gesehen? Für bestimmte Segmente gesellschaftlicher Arbeit kann man sicherlich von einer Neukombination von Flexibilität und Sicherheit sprechen. Aber der Preis dafür, dass für wenige eine kurzzeitige Sicherheit mit erhöhter Eigenverantwortlichkeit bezogen auf die "employability" des eigenen Arbeitsvermögens hergestellt wird, ist, dass viele andere Menschen - und dies überall auf der Welt in erster Linie Frauen - in Leiharbeit, Scheinselbständigkeit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse etc. abgedrängt werden. Darin besteht ja gerade ein Defizit industriesoziologischer Betrachtung: Veränderungen in den Regulierungsformen auf Unternehmens- oder sektoraler Ebene werden oft für das Ganze genommen.

Altvater: Das VW-Modell gilt für 5000 Beschäftigte von hunderten Millionen von Arbeitskräften in der Welt. Selbstverständlich könnte man dies als den Versuch der Formalisierung von Arbeit unter neuen Bedingungen bezeichnen, also als eine Antwort auf die Krise des fordistischen Arbeitsverhältnisses, auch um Informalität zu unterbinden. Aber eben als Nischenlösung. Es kommt auch gar nicht so sehr darauf an, dass Informalität jetzt wieder formalisiert wird. Die Frage ist, ob den Beschäftigten das zurückgegeben wird, was von der ILO als "sozioökonomische Sicherheit" bezeichnet wird. Darauf zielt unsere Argumentation. Wir sagen, die Informalisierung ist im Prinzip nicht aufzuheben, damit müssen wir umgehen. Hunderte von Millionen Menschen in der Welt müssen sich unter diesen Bedingungen reproduzieren. Diesen Menschen muss sozioökonomische Sicherheit gegeben werden. Dazu bedarf es Institutionen, die sozialen Schutz garantieren. Gäbe es diese, so könnte von einem neuen Entwicklungsmodell, einer neuen Regulationsweise gesprochen werden, sofern diese dann nicht nur für die Arbeit, sondern auch für den sozialisierenden Faktor des Geldes Gültigkeit hätte.

Mahnkopf: Aber unter den gegebenen Bedingungen könnten diese Sicherheiten im Falle von Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit nicht mehr - wie in der Vergangenheit - an die Erwerbsarbeit gekoppelt werden. Denn ein Großteil der Menschen wird nicht mehr dauerhaft in formellen Verhältnissen erwerbstätig sein. Um "sozioökonomische Sicherheit" herzustellen zu können, brauchen wir einen Umbau der sozialen Sicherungssysteme, eine von der Erwerbsarbeit unabhängige Krankenversorgung, garantierte Selbstvertretungs- und Organisationsrechte auch dort, wo Gewerkschaften nicht operieren, d.h. also die Anerkennung von Selbstorganisationen der informell Tätigen als legitime Verhandlungspartner sowohl gegenüber dem Staat und seinen Ordnungskräften, als auch gegenüber transnationalen Unternehmen, für die ja Informelle häufig im "subcontracting" tätig sind, und gegenüber internationalen Organisationen. Wenn die Bindung an Arbeitsplätze im formellen Sinne nicht mehr die zentrale Steuerungsgröße darstellt, kann sozioökonomische Sicherheit wohl auch weniger über Beschäftigungssicherheit gewährleistet werden; wichtiger werden dann die Einkommens- und die Vertretungssicherheit (durch Gewerkschaften und andere Organisationen) und die berufliche Sicherheit, d.h. die Sicherheit, berufliche Qualifikationen erwerben und erhalten zu können. Diese Optionen gehen in eine völlig andere Richtung als der gegenwärtig diskutierte Hartz-Vorschlag, der Integration in den formellen Arbeitsmarkt um jeden Preis erzwingen will.

Die Verallgemeinerung von Unsicherheit ist nicht nur über Arbeit, sondern maßgeblich auch über das Geld mit den Strukturen der kapitalistischen Ökonomie verknüpft. Ihr sprecht von einer Rückkehr der überwunden geglaubten "Politischen Ökonomie der Unsicherheit", die sich im Widerspruch zwischen Arbeitsgesellschaft und Geldgesellschaft entfaltet. Damit erhält die Krisenanfälligkeit des internationalen Finanzsystems und die Untersuchung krimineller Geldverhältnisse einen prominenten Stellenwert in eurem Buch.

Altvater: In dem Abschnitt über "Schmutziges Geld" wird die Paradoxie oder auch Ironie der Geschichte deutlich. Der Kapitalismus war zunächst eine Antwort auf die Macht des Wucherkapitals mit seinen sehr hohen Zinsen. Durch die industrielle Revolution und damit den Übergang zu den fossilen Energieträgern, wurde die Überschussproduktion derart gesteigert, dass aus dem Mehrwert die Zinsen gezahlt werden konnten. Als sich dann ein Geld- und Kapitalmarkt herausgebildet hatte, konnten die Zinsen sinken und damit ein Verhältnis von industriellem Profit und Zins entstehen, das für die Akkumulation des Kapitals zuträglich gewesen ist. Auch wenn man verschiedene Entwicklungsphasen unterscheiden kann, hat dieses Verhältnis bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein gegolten. Seitdem haben wir erneut eine Situation, in der die Realzinsen oberhalb der realen Wachstumsraten liegen. Das bedeutet, dass nun wieder die Exploitationsweise des Finanzkapitals die Produktionsweise dominiert und letztere sich anpassen muss, sei es in Form von Strukturanpassungen an den Weltmarkt, wie es der IWF von den Entwicklungsländern fordert, sei es in Form der Maastricht-Kriterien für die Länder Europas. Da diese Anpassungsleistungen an die Erfordernisse der Finanzmärkte auf Dauer nicht gelingen, kommt es immer wieder zu Krisen und damit zu finanziellen Instabilitäten und Risiken, die wiederum Zinssteigerungen zur Folge haben. Diese Art der finanziellen Repression wird zu einem Charakteristikum der gegenwärtigen Entwicklungsphase des Kapitalismus, und diese ist absolut instabil und erzeugt permanent Unsicherheiten. Daher lehnen wir es ab, diese Konstellation als Ausdruck einer neuen Akkumulations- und Regulationsweise zu bezeichnen, wie dies etwa Michel Aglietta tut.

In diesem Spannungsverhältnis von begrenzten energetischen Ressourcen und einem Gebirge von Zinsansprüchen untergräbt der Kapitalismus die Basis seiner eigenen Reichtumsproduktion. Befördert die damit einhergehende Informalisierung, die Unsicherheit produziert und immer wieder den Stoff für weitere Umverteilung liefert, eine Abwärtsspirale? Was bleibt von den zivilisatorischen Seiten der Kapitalentwicklung?

Altvater: Das ist schwer einzuschätzen. Finanzanlagen sind sehr viel lukrativer als Anlagen in der Produktion. Das führt zur Herausbildung von neuen Finanzinstrumenten, zu einer Vielzahl neuer Zentren, die sich des Umschlags dieser Finanzanlagen annehmen, und da findet dann auch die Kriminalisierung des Kapitalismus seine krassesten Ausdrücke: die Geldwäsche in den Offshore-Zentren, der Counter-Trade und dergleichen mehr. Dies alles befördert die Auflösung der Geldform. Eine unserer zentralen Thesen ist ja, dass die Vergesellschaftung im Kapitalismus nicht nur durch die Arbeit, sondern auch durch das Geld stattfindet. Dies ist die starke Marxsche These aus dem ersten Abschnitt im ersten Band des "Kapital". Beide Formen sind nun in Auflösung begriffen: die Informalisierung der Arbeit, aber dann auch die Informalisierung des Geldes. Von letzterer darf bei der Debatte über informelle Arbeit nicht abgesehen werden. Alle bisherigen Analysen zur Informalität haben genau diesen Mangel. Hier versuchen wir, einen Schritt weiter zu gehen. Mahnkopf: Die zivilisatorischen Tendenzen des Kapitals lassen sich gegenwärtig schwer ausmachen. Allerdings werden Neoliberale die Tatsache, dass sich kriminelle Unternehmen nicht lange am Markt halten können, als Ausweis der zivilisatorischen Lernfähigkeit des Kapitalismus verbuchen, und an der Diktatur der Finanzmärkte schätzen sie die disziplinierende Wirkung auf staatliche Ausgabenpolitik. Doch ist es eine offene Frage, wieviel "Diktatur der Finanzmärkte" oder politischer Cäsarismus mit Kapitalismus verträglich ist. Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg ging man davon aus, dass die parlamentarische und soziale Demokratie die dem Kapitalismus angemessenste Form ist. Doch dies ist nicht unbedingt auf längere Zeit weiterhin zu unterstellen.

Kennt der Kapitalismus nicht Wege, den finanziellen Überbau durch Reproportionierung und massive Wertvernichtung seiner Produktionsbasis wieder adäquat zu machen, und somit einen rationellen Kreislauf der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion auf immanent widersprüchlicher Basis erneut zu eröffnen?

Altvater: Uns geht es in diesem Buch nicht um eine Analyse der Finanzkrisen. Sicherlich stößt das "rent-seeking" als eine spezifische Art des Irrationalismus - Greenspan sprach vom "irrationalen Überschwang" der 1990er Jahre - an seine Grenzen, und es ließe sich die ungeheure Kapitalvernichtung an den Börsen aufzeigen. Immer dann, wenn das Kurs-Gewinn-Verhältnis irrational überhöht wird, wie im Boom der New Economy, gibt es einen Rückschlag, wie wir ihn ja gegenwärtig erleben. Dadurch entsteht aber keine neue gesellschaftliche Rationalität. Die kapitalistische Rationalität setzt sich gegen den irrationalen Überschwang ihrer eigenen Akteure in diesem System durch.

Durch den Rückgriff auf die Marxsche These, dass sich das Wucherkapital in der Entstehungszeit des Kapitalismus an die vorgefundenen Produktionsweisen hängt und dabei stagnierende Zustände herauskommen und eben keine ökonomische und gesellschaftliche Dynamik zustande kommt, wird nahe gelegt, dass die Entwicklung des gegenwärtigen Kapitalismus wieder in einer Konstellation der Stagnation angelangt ist.

Mahnkopf: In vielen Ländern beruht die Bereicherung gegenwärtig nur auf dieser "wucherkapitalistischen" Exploitationsweise. Für einzelne Länder, die vollkommen von Ressourcenökonomien und den dazugehörigen Bürgerkriegsökonomien abhängig sind, lassen sich eindeutige Stagnationstendenzen bis hin zur Zerstörung gesellschaftlicher Infrastrukturen in großem Umfang nachweisen. Im globalen Kontext ist dies bei den heutzutage erweiterten Möglichkeiten der Umverteilung von Vor- und Nachteilen und den Exit-Optionen für das Kapital allemal noch eine erträgliche Konstellation. Es bleiben zwar Friedhöfe zurück, aber es gibt immer noch Wohlstandsinseln.

Altvater: In der frühkapitalistischen Formation hat sich die Produktionsweise dieser Ausbeutungsweise angepasst und dann durch Produktivitätsfortschritte zu subsumieren versucht. Dieser Vorgang ist im Übrigen von Fernand Braudel und anderen Weltsystemtheoretikern viel zu verkürzt lediglich als Aufbau funktionierender Warenketten im Kapitalkreislauf analysiert worden. Wenn dieses Modell noch heute Gültigkeit hätte, müsste sich die Produktionsweise auch der Exploitationsweise des "rent-seeking" anpassen, d.h. es müssten Wachstumsraten erzeugt werden, die in etwa den Realzinsen entsprechen. Dies stößt an ökologische Grenzen und ist auch deshalb ausgeschlossen, weil die fordistischen Produktivitätspotenziale ausgeschöpft sind. Aber solange es dem Kapital gelingt, von einem Krisenherd wie beispielsweise Asien zu fliehen und in anderen Regionen wie den USA einen New-Economy- und Börsen-Boom zu erzeugen, bevor es auch diesen Hafen wieder verlässt - solange also ein Mechanismus funktioniert, dass sich die asiatischen Länder erholen können, um einige Jahre später wieder Opfer von Finanzattacken zu werden, solange findet ein krisenhafter Reproduktionsprozess statt. Der Kapitalismus bricht nicht zusammen. Aber Stabilität wird auf keinen Fall zustande kommen. Es verbleibt alles im Informellen, und Krisen werden erneut Bestandteil kapitalistischer Normalität.

Damit sind wir bei den Perspektiven. Ihr skizziert vier Konfliktszenarien: Erstens zunehmende imperialistische Konflikte zwischen den führenden Staaten. Das zweite wäre das wünschenswerteste Szenario, nämlich der Versuch der Inklusion von Metropolen und Peripherie auf dem Weg der "Global Governance". Drittens käme in Betracht die Chaotisierung der internationalen Beziehungen, also Weltmarktverhältnisse ohne klare hegemoniale Strukturen. Schließlich die aktuelle Konstellation: der "Kampf gegen den Terrorismus" als Kampf der, wie ihr es nennt, "ordentlichen" gegen die "unordentliche Informalisierung". Ist Letzteres für euch der wahrscheinlichste Entwicklungsgang?

Mahnkopf: Zunächst zur Klarstellung: Auch die "freundliche" Informalisierung einer Global Governance ist in unseren Augen nicht unbedingt die wünschenswerteste Perspektive. Darin sind ja nicht nur politische Kräfte mit hehren sozialen und politischen Zielen verwickelt, sondern ebenso Protagonisten eines "weichen" Rechts, d.h. der Anpassung des Völkerrechts an die Erfordernisse der Globalisierung, an die Interessen der transnationalen Unternehmen und ihrer Lobby in den internationalen Organisationen. Wünschenswert wäre aber "hartes" Recht auf globaler Ebene mit zwingenden und durchsetzungsfähigen Rechtsstrukturen, durch die gegenwärtige Prozesse der Informalisierung in neue formelle Strukturen gegossen werden könnten. Dafür findet man gegenwärtig am wenigsten Ansatzpunkte. Im Gegenteil: Das, wofür die "ordentliche Informalisierung" der Global Governance steht, nämlich multilaterale Strukturen, Beteiligung vieler Akteure, Schaffung neuer verbindlicher Regeln, all das wird unterminiert, konterkariert und zerstört durch unilaterale Aktivitäten, insbesondere von Seiten der USA, bemäntelt mit der Parole vom "Kampf dem Terrorismus", aber auch durch die Aufwertung der WTO mit Deregulierungskompetenzen etc. Also haben wir es heute doch eher mit einem Rückschritt hinter so etwas wie Global Governance zu tun. Selbst von dieser freundlichen Variante der Informalisierung sind wir gegenwärtig sehr viel weiter entfernt als noch Mitte der 1990er Jahre.

Altvater: Wir sind mit dem gegenwärtig vorherrschenden Typ der Analyse internationaler Beziehungen überhaupt nicht einverstanden. Bisher dominierte die Sichtweise auf Governance without Government, auf rosige Perspektiven der Denationalisierung und das hohe Lied auf die Nichtregierungsorganisationen und die Zivilgesellschaft. Dies alles wurde als demokratiefördernd qualifiziert. Dagegen versuchen wir innerhalb der Globalisierung der Unsicherheit wieder die Beziehungsverhältnisse von Politik, Staat, Ökonomie und Gesellschaft ins Zentrum zu rücken, die durchaus nicht allesamt freundlich sind, sondern in sich das Potenzial zu harten Konflikten bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen bergen. Diese Entwicklungszusammenhänge machen wir als Szenarien auf, ohne mit Bestimmtheit zu sagen, welche Variante sich durchsetzen wird. Gegenwärtig spricht einiges für das Szenario "Krieg gegen den Terrorismus", aber auch dieses wird nur Konflikte lösen, indem es neue und härtere produziert.

Informalität wird man nicht abschaffen können, aber einhegen müssen. Es müssen neue Formen von Sicherheit etabliert werden und dies erfordert international sanktionsbewährte Regeln.

Mahnkopf: Für eine Regulierung der Finanzmärkte reicht die nationale Ebene nicht aus. Für den Schutz von sozialen und ökologischen Standards bleibt die nationalstaatliche Ebene aber fraglos sehr wichtig. Dennoch können auch diese Standards nicht gesichert werden, solange nicht eine Welthandelsorganisation neuen Typs oder auch eine demokratisierte und mit härterem Recht ausgestattete UN ihre Politik an sozialer Gerechtigkeit, ökologischer Nachhaltigkeit und demokratischer Partizipation als übergreifenden, also auch der Liberalisierung von Märkten übergeordneten Werten ausrichtet. Erst dies würde Handlungsspielräume auf nationaler und lokaler Ebene schaffen. Die zentrale Frage lautet also nicht: mehr oder weniger Staatlichkeit, sondern: welcher andere Typus von Globalisierung ist wünschenswert. Hinweise sind unter anderem dem vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen UNDP formulierten normativen Konzept der "human security" zu entnehmen: Wenn die Sicherheit von Individuen und Völkern (anstelle oder in Ergänzung zu der Sicherheit von Staaten) in all ihren Dimensionen ins Zentrum zukunftsorientierter politischer Entscheidungen rückte, so hätte dies weitreichende Implikationen - für eine bestimmte Art von Landwirtschafts-, Arbeitsmarkt, Sozial- und Wirtschaftspolitik, auch im nationalen Kontext.

Kann dies in eine zukünftige Veränderung der bestehenden Produktions- und Exploitationsweise münden? Der Einstieg in ein positives Szenario hieße auf alle Fälle, sich in erster Linie auf Aspekte sozialer Sicherheit zu konzentrieren.

Altvater: Ich will die diskutierten Thesen zuspitzen: Man kann sagen, dass der Kapitalismus die möglichen Formen, auf denen er basiert, ausgeschöpft hat, und keine anderen mehr möglich sind, die mit seiner Funktionsweise als Profitproduktionsmaschinerie kompatibel sind. Infolgedessen sind die Auflösungstendenzen, mit denen wir uns in der Analyse der "Globalisierung der Unsicherheit" auseinander gesetzt haben, eben auch Formen, die über den Kapitalismus eigentlich schon hinausweisen. Bindet man die Sicherheit nicht mehr an Erwerbsarbeit, bedeutet dies, dass ein zentrales Element der kapitalistischen Produktionsweise jetzt nicht mehr kapitalistisch reguliert werden kann. Wenn Einkommenssicherheit, berufliche Sicherheit, Vertretungssicherheit etc., also sozioökonomische Sicherheit im weitesten Sinne, zum Prinzip der Regulation werden, dann ist dies wohl kaum noch in kapitalistischen Strukturen möglich. Mit anderen Worten: Der Kapitalismus wird nicht dadurch überwunden, dass man das Privateigentum sozialisiert, wie man dies früher vielleicht geglaubt hat, sondern es müssen Formen des sozialen Lebens entwickelt werden, die über den Kapitalismus hinauswachsen.
Derzeit haben wir es mit massiven Konflikten zu tun. Einerseits die abgehobene Sphäre eines wilden Finanzkapitalismus auf globaler Ebene, auf der anderen Seite schon Entwicklungstendenzen in der Arbeit, die zwar mit sehr viel Unsicherheit und manchmal auch mit Elend verknüpft sind, aber doch auch Elemente enthalten, die über die kapitalistischen Formen der Erwerbsarbeit hinausweisen. Diese Gemengelage ist in sich sehr instabil.

Damit stellt sich die Frage nach dem Träger für einen rationellen Ausweg, wenn selbst progressive Teile der globalen Klasse für eine Durchsetzung ordentlicher Informalisierung beispielsweise in Form der Durchsetzung eines Programms von "human security" ausfallen. Ihr sprecht von widerständigen Elementen der Informalisierung, wie sie sich unter anderem im Porto Alegre- Prozess artikuliert haben. Damit im Zusammenhang muss es zu Allianzen für Umverteilungsprozesse in Richtung mehr sozialer und globaler Gerechtigkeit kommen.

Mahnkopf: Die Bedingungen für solche strategischen Allianzen für mehr soziale Gerechtigkeit und menschliche Sicherheit haben sich in den letzten zwei Jahren verschlechtert. Doch nach wie vor werden Revolutionen von Menschen gemacht, wenn sie denn gemacht werden. Andererseits müssen wachsende Teile der Weltbevölkerung, insbesondere in den Ländern des Südens und in den Transformationsländern, ihr Leben schon heute jenseits formeller Strukturen des Kapitalismus organisieren. Dadurch entstehen Vergesellschaftungsformen, die gegenwärtig zwar keine besonders schöne Gestalt haben, aber wenn auch aus der Not geboren, dennoch Organisationsformen von Arbeit und Leben jenseits gegebener kapitalistischer Strukturen darstellen.

Altvater: Man kann es mit Eric Hobsbawm halten und davon ausgehen, dass das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert der Umverteilung werden muss. Umverteilung hat wiederum sehr viel mit Ökologie zu tun. Solange die monetäre Umverteilung so ungleich ist wie gegenwärtig, solange ist auch der Ressourcenverbrauch und der Zugriff darauf extrem ungleich verteilt. Bei knapper werdenden Ressourcen eskalieren die Konflikte - da sind wir mittendrin. Die Frage nach den subjektiven Trägern wird aus diesen Konflikten zu beantworten sein. Das Subjekt der Veränderung ist nicht da, sondern entsteht. Die Menschen, so hat es einmal ein bekannter Kapitalismuskritiker formuliert, stellen sich immer die Aufgaben, zu deren Lösung sie auch fähig sind. An dieser (Selbst)befähigung müssen wir arbeiten...

1Birgit Mahnkopf ist Professorin für Europäische Gesellschaftspolitik an der Fachhochschule für Wirtschaft in Berlin. Elmar Altvater ist Professor für Politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin. Das Buch, das Grundlage für das Gespräch war, hat 393 Seiten, ist im Verlag Westfälisches Dampfboot erschienen und kostet 24,80 EUR. Für Sozialismus diskutierten Joachim Bischoff, Richard Detje und Christoph Lieber.

aus: Sozialismus 11/2002, S. 10-15.