Jörg Reitzig in Z

Balibar, Étienne. Europa: Krise und Ende?

Es ist sicherlich nur ein Zufall, dass das Jahr 1973, als die Bühnenfassung der heute legendären Rocky-Horror-Show in London Premiere feierte, zugleich das Jahr des Beitritts der Briten zur Europäischen Union war. Doch während das Pärchen Brad und Janet in dem auch nach 43 Jahren noch erfolgreichen Musical am Ende außerirdischer Exzesse, Verführungen und Intrigen stets glücklich davonkommt, bereiten die EU und Großbritannien heute ihre Scheidung vor. Europa steckt in der Krise. Für den französischen Philosophen Étienne Balibar Anlass einige seiner Texte der letzten Jahre zu einem Buch zusammen zu fassen und „für Europa eine tragfähige Perspektive der Neugründung“ (21) zu suchen. Und so ungewiss diese Zukunft derzeit auch ist, so wahr ist zweifellos Balibars Grundannahme, dass sie „in jedem Fall aber von unserer wechselseitigen Abhängigkeit bestimmt sein wird“ (13).

Die einzelnen Texte sind als intellektuelle Interventionen zwischen dem Beginn der Eurokrise 2010 und dem Herbst 2015 entstanden. Sie verbinden fünf Themenkomplexe, anhand derer Balibar die neue Qualität europäischer Krisenprozesse „als ein Problem für die Bevölkerungen der Mitgliedstaaten“ (11) diskutiert. Erstens, die Folgen des autoritär-technokratischen EUKonstitutionalismus, wie er sich insbesondere gegenüber der griechischen (Syriza-)Regierung gezeigt hat. Zweitens, die Zusammenhänge zwischen solchen Erscheinungen, die unter dem Stichwort ‚Krise der Repräsentation‘ diskutiert werden und dem Aufstieg rechtspopulistischer Parteien in Europa. Drittens, die Zusammenhänge zwischen Staatenwettbewerb als Modus der EU-Integration und der tendenziellen Schwächung der nationalstaatlich verfassten Sozialstaaten. Viertens, die sich überlagernden Entwicklungen eines wiedererstarkten innereuropäischen Nationalismus auf der einen und eines wachsenden Fremdenhasses auf der anderer Seite. Fünftens, der geopolitische Funktionswandel Europas und die sich im Schatten der Flüchtlingsbewegungen vollziehende Formierung von ‚Europa-als-Grenze‘.

Die Gegenwart der EU analysiert Balibar als Periode, in der die Demokratie – verstanden als eine „Gesamtheit von Praktiken, Institutionen und historischen Bedingungen“ (241) – in der Defensive ist. Reale (ökonomische) Mächte haben sich ein ganzes Stück weit demokratischer Kontrollen entzogen. Zudem werden deren institutionellen und normativen Grundlagen durch die neoliberale Hegemonie weiter unterminiert. Gleichzeitig entstehen vielerorts neue Bewegungen, die mit innovativen Formen der Gegenwehr ihre Unzufriedenheit mit den Folgen dieser Entwicklung ausdrücken und die neue Felder gesellschaftlicher Kämpfe und solidarischer Praxen schaffen (241). An verschiedenen Stellen seiner Ausführungen ist Balibar bemüht, die möglichen Lehren aus der griechischen Erfahrung sehr gründlich zu ziehen – als deprimierende Erfahrung einerseits, weil eine faktische Entmachtung des Demos stattfand, und als Ermutigung andererseits, weil es trotz Niederlage gelang, die Erfordernis einer Alternative in Europa aufzuzeigen (28).

Die neoliberalen Technokraten, die die EU-Politik heute dominieren, schüren demgegenüber das Bild, dass den EU-Befürwortern, die auf die Einhaltung vermeintlich gemeinsamer Regeln achten, die eigentlichen Anti-Europäer gegenüberstünden, die diese Regeln brechen wollten (248). Der tatsächliche Souveränitätskonflikt bestehe Balibar zufolge heute aber nicht zwischen der EU-Ebene und der nationalstaatlichen Ebene – auch wenn zahlreiche Konflikte auf dieses anschauliche Schema reduziert werden. So könne keine Nation alleine wieder eine tatsächliche Souveränität des Volkes gegenüber dem globalen Finanzmarkt herstellen, der ihnen inzwischen als „Quasi- Souverän“ (246) gegenüber tritt. Nur ein demokratisches Bündnis miteinander koalierender Nationen wäre dazu in der Lage.

Tatsächlich erlebt Europa zurzeit aber eine Renaissance nationaler Souveränismen bis hin zu populistischen Nationalismen. Balibar warnt eindringlich davor, die mit dem wachsenden Einfluss dieser Tendenzen verbundene Infragestellung des ‚Projekts Europa‘ und die gesellschaftlichen Zersetzungsprozesse, die daraus resultieren können, zu unterschätzen – oder auch nur darauf zu hoffen, dass die herrschenden Eliten einen ‚Plan B‘ haben. Letzteres ist offenbar – siehe Brexit – nicht der Fall. Der offenkundig gewordenen Unfähigkeit der herrschenden Klasse für Europa ein neues hegemoniales Projekt zu entwerfen, steht für den Autor die Unfähigkeit der Linken gegenüber, „das Problem eines anderen Europas überhaupt erst im europäischen Maßstab als solches aufzuwerfen, d.h. über die Grenzen hinweg“ (31). In kritischer Auseinandersetzung mit Positionen anderer europäischer Intellektueller wie Jürgen Habermas, arbeitet er heraus, dass Initiativen, die auf die Stärkung der parlamentarischen Vertretung der Bevölkerung zielen, zwar nicht falsch, jedoch unzureichend sind. Denn die aktuellen Praxen und Abläufe in der EU sind „doch gerade darauf hin angelegt worden, die Demokratie auszuschließen“ (156). Es bräuchte vielmehr einen richtiggehenden ‚Sprung‘, um die Demokratie wieder in den Aufbau Europas einzubringen.

Potenziale einer Gegenbewegung zur voranschreitenden Ent-Demokratisierung, also für eine „Umkehrung der Umkehrung“ (242), sieht er in der Rückbindung demokratischer Prozesse an das Partizipation ermöglichende Lokale, wie sie etwa bei der spanischen Bewegung der Indignados (zuletzt auch der NuitDebout in Frankreich) entwickelt und kultiviert wurden. Denn die (föderale) Demokratie auf (supranationaler) EU-Ebene, ebenso wie die nationale Demokratie können nur dann wieder gestärkt werden, wenn sich die Demokratie auf beiden Ebenen substanziell wechselseitig ergänzt bzw. zu einem „kombinierten Wachstum der Handlungsfähigkeit“ (243) führt – statt zu wechselseitiger Blockade und Sinnentleerung. Letztlich hänge die Legitimität eines politikonkrete Verfasstheit von den Menschen als etwas wahrgenommen wird, was die tradierten Formen demokratischen Regierens derartig ergänzt, dass es ihnen überlegen bzw. als fortschrittlich erscheint.

Balibars Buch ist ein wahrer Steinbruch kluger Gedanken zur Zukunft eines demokratischen und von sozialer Teilhabe geprägten solidarischen Europas. Satzlängen über sechs und mehr Zeilen machen es mitunter schwer, den Gedankengängen des Autors zu folgen. Wer sich aber darauf einlässt, kann einen bedeutenden europäischen Philosophen sozusagen beim Denken begleiten und wird belohnt mit anregenden Analysen der europäischen Widerspruchsverhältnisse, die ein besseres Verständnis der komplexen Realitäten eröffnen. Verdienstvoll an der Übersetzung durch Frieder Otto Wolf sind nicht nur die sprachliche Versiertheit und die begrifflichen Ergänzungen sowie erläuternde Fußnoten, die das Verständnis des Textes erleichtern. Es verdient eine besondere Würdigung, dass die deutsche Fassung bereits ein knappes Vierteljahr nach der französischen Originalausgabe erschienen ist – essentiell für die Wirksamkeit einer politischen Philosophie, die in aktuelle Prozesse eingreifen bzw. zum Eingreifen ermutigen will.

Z, Zeitschrift für Marxistische Erneuerung Nr. 108, Dezember 2016

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