Kristine Beurskens in: suburban

Belina, Naumann, Strüver (Hrsg.). Handbuch kritische Stadtgeographie

Kritisches Denken aufbereitet
Rezension zu Bernd Belina, Matthias Naumann, Anke Strüver (Hg.) (2014): Handbuch kritische Stadtgeographie. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Im Sommer des Jahres 2014 erschien ein Buch, welches in einigen Bereichen der raumbezogenen Forschung und Lehre schon erwartet und mit offenen Händen empfangen wurde: das Handbuch kritische Stadtgeographie. Die Herausgeber_innen Bernd Belina, Matthias Naumann und Anke Strüver setzten sich mit dem Werk das Ziel, „Studierenden – nicht nur der Geographie, sondern auch benachbarter Disziplinen – die reichhaltigen Debatten kritischer Stadtgeographie – näher zu bringen.“ (Belina/Naumann/Strüver 2014: 12). Die Bedeutung dieser Publikation allerdings erscheint um einiges vielschichtiger als dieses konkrete Vorhaben.

Kritische Ansätze haben sich in der deutschsprachigen Geographie – im Gegensatz zu ihren Nachbardisziplinen oder auch zum englischen Sprachraum – erst in jüngerer Vergangenheit wieder einen Stellenwert erkämpft (vgl. Bartholl 2008: 25f; Belina 2007: 338ff; Schreibwerkstatt des AK Kritische Geographie 2011: 255). Seit den 2000er Jahren wuchs die Zahl kritisch orientierter Forschungen erheblich an, was sich auch in einigen einschlägigen Veranstaltungen und Publikationen widerspiegelte (die International Conference of Critical Geography 2011 in Frankfurt/Main, die regelmäßigen Arbeitskreise und Forschungswerkstätten der Kritischen Geographie, die Veröffentlichungen in der Reihe Raumproduktionen des Westfälischen Dampfboot-Verlages u. v. m.). Während sich somit der wissenschaftliche Austausch zu diesen Ansätzen intensivierte, fand das kritisch-geographische Denken kaum Wege in die Lehrpläne und Standardwerke an den Universitäten beziehungsweise verblieb stark auf einige wenige Lehrpersönlichkeiten beschränkt(vgl. auch Bartholl 2008: 26; Schreibwerkstatt AK Kritische Geographie 2008: 51).

Die Motivation, diese Situation zu ändern, so wird dem Lesenden schnell deutlich, prägt dieses Buch von Beginn an als persönliches Anliegen der Herausgeber_innen. Um ihrem Ziel Nachdruck zu verleihen, stellen die sie in ihrer Einleitung zunächst die Bedeutung städtischer Prozesse und ihrer Erforschung heraus. Die Hervorhebung von Städten als relevante gesellschaftsprägende Orte und Kontexte scheint unangefochten und doch wie so oft etwas schwierig, wirkt teilweise etwas bemüht und einschränkend. Das Gesamtwerk lässt vermuten, dass es stärker darum ging, kritische Inhalte und Denkansätze in die Stadtgeographie einzubringen, und nur in zweiter Linie darum, bisher schon vorhandene kritische Forschungen in der deutschen Stadtgeographie hervorzuheben und darzustellen. Es scheint ein Versuch zu sein, mit der Stadt als Aufhänger einen Austausch über kritische Ansätze im Allgemeinen herzustellen Dabei bewegt es sich zwischen kritischer Stadtforschung und kritischer Geographie.

Als bedeutend für den Ansatz des Handbuches erweist sich in diesem Zusammenhang eine die knapp dreiseitige Diskussion ums Städtische abschließende Feststellung, dass Stadtforschung „dann auch kein klar abgrenzbarer Bereich der Wissensproduktion“ sei, „sondern ein Feld, in dem Prozesse untersucht werden, für deren Verständnis das Städtische wichtig ist“ (Belina/Naumann/Strüver 2014: 11). Gleichsam wird verdeutlicht, dass trotz des programmatisch im Titel benannten Bereiches der „Stadtgeographie“ eine kritische Stadtforschung immer eine Disziplinen übergreifende Angelegenheit ist. Ziel ist es – und da kommt die Geographie eben doch wieder stärker ins Spiel –, mit diesem Handbuch eine Lücke in der Lehre, insbesondere in der des Faches Geographie zu füllen, und zwar indem das Handbuch „erstmals theoretische Grundlagen und empirische Untersuchungen einer kritischen Stadtgeographie für Studierende in den ersten Semestern“ (Belina/Naumann/Strüver 2014: 12) aufbereitet.

Dass es dabei aber nicht nur um Stadtgeographie an sich gehen kann, haben die Herausgeber_innen letztendlich nicht nur eingängig herausgearbeitet, sondern zeigt sich auch in der personellen Struktur der Herausgeber_innenund Autor_innenschaft: Erstere sind als kritische Geograph_innen bekannt, aber nicht in erster Linie als Stadtgeographinnen. Auch die Autor_innen der Beiträge sind nicht allesamt ausgewiesene Stadtgeograph_innen (die dann zudem kritisch forschen), sondern können als Vertreter_innen kritischer Inhalte in der Geographie bzw. in der Stadtforschung zusammengefasst werden. Dieses Vorgehen, wenn auch scheinbar etwas von hinten herum, hat dank einer hohen inhaltlichen Vielschichtigkeit und Qualität sowie außergewöhnlich strukturierter Aufbereitung der Beiträge zu einem Gesamtwerk geführt, das den Titel Handbuch mit einigem Selbstbewusstsein tragen kann.

Das Wissen in den Bereichen einer kritischen Stadtgeographie nimmt verschiedene Formen an. Es prägt in der Analyse unsere Konzepte oder Zugänge zum Feld. Viele Begriffe (z. B. Gentrifizierung) sind in kritischen Diskursen erst populär geworden, andere eher allgemeingebräuchliche Terminologien (wie z. B. Scale, Diskurs, Arbeit) bekommen in gesellschaftskritischer Perspektive und Praxis eine neue Richtung. Der Vielschichtigkeit ‚kritischen Wissens‘ nimmt sich dieses Handbuch an, indem es kritisch geographische Inhalte in fünf Vermittlungsbereiche unterteilt:

(1) Theorien: Hier wird in Beiträgen von verträglicher Länge und verständlicher Form ein Zugang geschaffen zu einigen wesentlichen Ansätzen, Konzepten und Perspektiven einer kritisch orientierten Stadtforschung, wie sie bisher in der Fachliteratur zumeist in anderssprachigen Werken zu finden ist.
(2) Methoden: eine kleine, aber feine Selektion von Methoden wird vorgestellt und in ihrer Eignung für kritische Stadtforschung diskutiert.
(3) Begriffe: stellt ausgewählte, jedoch grundlegende Begriffe kritischer Stadtgeographie in ihrer Entstehung und im Zusammenhang mit gegenwärtigen Deutungen und Anwendungen vor.
(4) Themen: wirft einführende Blicke auf das, womit sich die kritische Stadtgeographie gegenwärtig beschäftigt.
(5) Kämpfe: in diesem Teil werden Beispiele von Konflikten in Städten vorgestellt und hinsichtlich ihrer Ziele, Bedeutungen und Verlaufsformen diskutiert.

Wie wurde diese fünfteilige Beitragssammlung umgesetzt? Schaut man sich die Themen oder Beitragsgegenstände an, so fällt auf – und das stellen die Herausgeber_innen auch selbst klar – , dass es sich hier um eine eingeschränkte Auswahl handelt, die beim näheren Hinsehen einen personen- und möglichkeitsgesteuerten Selektionsprozess in den eigenen Netzwerken vermuten lässt. Wirkt sich das beeinträchtigend für das Handbuch aus? Ja und nein.

Zunächst sind alle Verfasser_innen (mit Ausnahme der herausgebenden Personen) nur an einem Beitrag beteiligt, was eine höhere Individualität, fachliche Spezifik und Tiefe des in den Beiträgen dargestellten Wissens nahe legt. Diese Art der Diskussion in einem Handbuch anzubieten, macht deutlich, dass die dabei vertretenen Deutungen von Begriffen und Ansätzen einem kritisch orientiertes Denken und Vorgehen entsprechen, ohne Anspruch auf eine alleinige oder verallgemeinerbare Gültigkeit zu erheben.

Nachteile der eher eigenwilligen Selektion allerdings könnten darin gesehen werden, dass einfach einige Themen fehlen, die für eine kritische Stadtgeographie relevant sind, wie z.B. ‚Stadtplanung’ oder ‚Armut’, ‚Alter’, ‚Kriminalisierung’ und ‚Sicherheit’, während sich beim Lesen einiger der besprochenen Themen die Frage stellt, warum ausgerechnet diese gewählt wurden.

Die Rubrik der Methoden hätte eine etwas breitere Palette gängiger sowie seltenerer/neuerer Methoden enthalten können. Eine Diskussion darüber, wie und mit welchen Methoden kritische Stadtforschung/Stadtgeographie möglich ist, ist bisher nur ansatzweise geführt worden – und ist gerade für Studierende und für eine Weiterentwicklung der kritischen Perspektiven in der Lehre von großer Bedeutung. Zusätzlich strahlen die Beiträge zum Teil eine gewisse Einseitigkeit aus. Es scheint, als wäre mit der hier vorgenommenen Auswahl von Beiträgen etwas an Potential verschenkt worden. Hier hätten mehr Perspektiven einbezogen werden können. Die inhaltlichen Diskussionen hätten mehr Streitfähigkeit, Aktualität und Tiefe vertragen, vielleicht indem mehrere Autor_innen ihre Kenntnisse zu einem Begriff einbrächten und sogar debattierten.

Ein ganz besonderer Verdienst der Herausgeber_innen allerdings ist das Konzept der Aufbereitung der Beiträge – gerade darin liegt eine Stärke des Buches, die wohl kaum bestritten werden kann. In dem außergewöhnlichen Format der Beiträge wird deutlich, wie stark sich die Autor_innen an entscheidenden Aspekten der Zielsetzung orientiert haben, nämlich einen Überblick, Inspiration sowie Anreize zum Weiterlesen und Weiterlernen zu vermitteln: Die Beiträge beginnen jeweils mit einer (1) These, die als Kurzerklärung den Lesenden eine erste Orientierung über den Begriff selbst und darüber hinaus gibt. Sie hilft, eine erste Einordnung vorzunehmen, die auch immer schnell wieder erfasst werden kann. In den folgenden Zeilen wird die (2) Relevanz vermittelt, also deutlich gemacht, warum der Beitrag lesenswert ist und welche Rolle das Thema oder der Begriff im Rahmen einer kritischen Stadtgeographie spielt. Dem schließt sich eine ausführlichere (3)Diskussion des Themas oder Begriffes mit zentralen Darstellungen, Argumenten und Erläuterungen von Zusammenhängen an, bevor der Sachverhalt an einem (4) Beispiel aus dem deutschsprachigen Raum und somit nah am Kontext der Lesenden veranschaulicht wird.

Ein ganz besonderer Pluspunkt sind die integrierten (5) Hinweise, die die handbuchartigen Ausführungen der Beiträge wesentlich unterstützen, wie z.B. die weiterführenden Lesehinweise jeweils am Ende der Beiträge mit – ganz besonders hilfreich – erläuternden Anmerkungen durch die Beitragsautor_innen. Doch auch im laufenden Text sind Querverweise auf verwandte und ebenfalls erklärte Begriffe, Konzepte und Personen enthalten, die somit das vermittelte Wissen in einen Zusammenhang stellen und Anknüpfungsmöglichkeiten schaffen. Angesichts dieser konsequenten Informationsaufbereitung kann man sagen, dass der Wunsch des Trios, ein gebrauchsgeeignetes Handbuch zu schaffen, sehr erfolgreich aufgegangen ist.

Fazit: Das Handbuch kann als zeitdokumentarisches Abbild eines spezifischen und progressiven Teils der gegenwärtigen deutschsprachigen kritischen Geographie verstanden werden, die mit dem Thema ‚Stadt‘ einen Anker und Reflexionspunkt zu fachübergreifenden kritischen Debatten und Ansätzen gefunden hat. Das Handbuch hat eine seit langem gefühlte Lücke gefüllt und wird trotz oder gerade wegen seiner Spezifiziertheit, aber vor allem Dank seiner besonderen Aufbereitung und Verknüpfung von Wissen zumindest für die kommenden Jahre nicht aus den Standardwerken (stadt-) geographischer Lehre wegzudenken sein. Kritische Stadtgeographie ist auch im deutschsprachigen Raum im Wachsen begriffen. Ihre Vertreter_innen wie Forschende, Lehrende und Lernende haben jetzt ein Werk, das Grundlagen und Anhaltspunkte für Debatten und Begriffsdefinitionen liefert. Es kann als ein gelungener erster Aufschlag für etwas gesehen werden, das vielleicht in einer Dekade schon erweitert und ergänzt werden kann. Ob es sich bei einer Neuauflage weitere kritisch denkende Verbündete suchen wird?


Autor_innen
Kristine Beurskens ist Geographin. Ihre Schwerpunkte sind soziale und politische Geographie, Dynamiken sozialer Ungleichheit, Grenzziehungen, Migration, Stadt, informelle Praktiken sowie Methoden qualitativer Sozialforschung. kristine.beurskens@gmail.com


Literatur
Bartholl, Timo (2008): Radikal und emanzipatorisch: Geografie mal anders – Ein Einblick in Kritische Geografien” http://orangotango.info/wp-content/uploads/Geografie-malanders. pdf (letzter Zugriff am 17.06.2015).
Belina, Bernd (2008): Kritische Geographie: Bildet Banden! Einleitung zum Themenheft. In: ACME: An International E-Journal for Critical Geographies 7/3, 336-349.
Belina, Bernd / Naumann, Matthias / Strüver, Anke (Hg.)(2014): Handbuch kritische Stadtgeographie. Münster: Westfälisches Dampfboot.
Schreibwerkstatt AK Kritische Geographie (2008): Zwischen den Fronten!? Junge Kritische Geographie und Gesellschaftstheorie im 21. Jahrhundert. In: Geographische Revue 10/2, 51-65.
Schreibwerkstatt AK Kritische Geographie (2011): Kritische studentische Initiativen an der Bologna-reformierten Universität – Möglichkeiten und Grenzen. In: ACME: An International E-Journal for Critical Geographies 10/2, 254-268.

2015, Band 3, Heft 2 Seiten 173-176, zeitschrift-suburban.de

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