Patrick Wagner in: Neue Politische Literatur

Etzemüller, Thomas (Hrsg.). Vom "Volk" zur"Population"

Sammelbände genießen einen schlechten Ruf: Allzu oft kommen sie als desparate Additionen von Artikeln daher, die eher der Buchbinder als der Herausgeber miteinander verbindet. Auf den ersten Blick könnte eine solche Kritik auch den Band treffen, den der Oldenburger Zeithistoriker Thomas Etzemüller unter dem Titel „Vom ,Volk‘ zur ,Population‘“ herausgegeben hat und der sich in einem denkbar breiten Zugriff der Geschichte „interventionistische[r] Bevölkerungspolitik“ (so der Untertitel) nach 1945 widmet.

Das Themenspektrum der Beiträge reicht vom disziplinären Auseinanderdriften von Anthropologie und Humangenetik über die „Gefühlspolitik“ des Impfens (S. 245) und die Sterilisationspraxis der humangenetischen Beratungsstelle in einem Hamburger Krankenhaus bis zur weltweiten Tätigkeit des amerikanischen Population Council und zur Entwicklung von Geburtenkontrollprogrammen in Kenia, Haiti und Kolumbien. Die methodische Bandbreite erstreckt sich von der Auseinandersetzung mit Selbstzeugnissen einzelner Akteure über die aktenbasierte Rekonstruktion nationaler Politiken bis zu theoriegeleiteten Räsonnements darüber, wie die moderne Risikomedizin Menschen in Elementarteilchen statistisch konstruierter Populationen verwandelt hat.

Abgesehen davon, dass sich die Qualität der einzelnen Beiträge zwischen solide und inspirierend bewegt, trügt auch der erste Anschein inhaltlicher Diffusität. In der Einleitung gelingt es Etzemüller, dem Band einen konzeptionellen Rahmen zu zimmern, indem er theoretische Ansätze von der Foucault’schen Biopolitik bis zu Anselm Doering-Manteuffels Modell einer Abfolge von dominanten Ordnungsvorstellungen im 20. Jahrhundert anregend aufeinander bezieht. Integriert wird der gesamte Band zudem durch den Fokus aller Beiträge auf die Rolle medizinischer und bevölkerungswissenschaftlicher Experten.

Dennoch zerfällt der Band in zwei distinkte Blöcke, die von den Autoren und Autorinnen selbst nicht in Beziehung zueinander gesetzt werden. Sieben Beiträge beschäftigen sich mit der Bundesrepublik und gehen der gemeinsamen Frage nach, inwiefern autoritäre Programme zur staatlichen Intervention in Gesundheit und Reproduktion der Bevölkerung von „Technologien des Selbst“ abgelöst wurden (S. 12). Diese Perspektive fehlt in jenen vier Aufsätzen, in deren Mittelpunkt Geburtenkontrollprogramme der Dritten Welt stehen. Stattdessen geht es hier um die Bedingungen von Erfolg und Misserfolg der Interventionen von Experten, die sich selbst als Agenten von Modernität verstanden, in die von ihnen als traditionell vorgestellten Lebenswelten ländlicher Unterschichten. Hinzu kommen Ansätze zu einer „Verflechtungsgeschichte zwischen der globalen und der nationalen Ebene“ antinatalistischer Bevölkerungspolitik (S. 56).

Ob die Trennung der Perspektiven eine langfristige Divergenz zwischen Erster und Dritter Welt abbildet (ohne sie explizit zu thematisieren), einer unterschiedlichen Auswahl der Untersuchungszeiträume geschuldet ist, oder schlicht den individuellen Interessen der Autoren und Autorinnen entspringt, bleibt unklar. Jedenfalls bildet der Sammelband gerade mit der analytischen Separierung der Welten den derzeitigen Forschungsstand und die vorherrschenden Fragestellungen ab. Dies geschieht auf hohem Niveau und lässt zugleich erkennen, wo die Grenzen dieser Forschung liegen. Damit liegt ein Wert des Bandes darin, dass er Nachfragen provoziert, die über den Forschungsstand hinausführen mögen.

Erstens legen es die der Bundesrepublik gewidmeten Analysen des Aufstiegs von Technologien des Selbst nahe, danach zu fragen, ob nicht auch die Bevölkerungspolitiken im globalen Süden eine ähnliche Entwicklung durchliefen. Hier wäre es sinnvoll, den in Bezug auf diese Weltregionen nur bis in die frühen 1970er Jahre reichenden Blick des Sammelbandes auszuweiten und der Frage nachzugehen, inwiefern das Konzept des empowerment von Frauen der Dritten Welt, das in den 1980er Jahren an Bedeutung gewann und mit der UN-Bevölkerungskonferenz von Kairo 1994 als in der globalen Politik etabliert galt, als eine solche Technologie des Selbst verstanden werden kann.

Hierzu wäre es zweitens wichtig, ein Defizit zu überwinden, das der Band mit fast allen historischen Untersuchungen von Bevölkerungspolitik in der Dritten Welt teilt: Die Zielgruppen dieser Politik werden als Akteure und Akteurinnen kaum sichtbar. In der Regel gelangen Studien nicht über die Erkenntnis hinaus, dass die Experten mit ihren Theoremen nicht in der Lage gewesen seien, die Lebenswelten dieser Menschen und die Logiken ihrer Reproduktionsentscheidungen zu verstehen. Historiker und Historikerinnen müssen sich aber eingestehen, dass sie hieran meist ebenfalls scheitern, weil sie dort, wo sie Quellen zu suchen pflegen (hier: in der Publizistik und der in Archiven auffindbaren Binnenkommunikation der Experten), keinen Zugang zu den wichtigsten Akteuren und Akteurinnen von Geburtenpolitik finden. Die britische Ethnologin Emma Tarlo hat mit einer 2003 publizierten Studie über Sterilisationspraktiken in einem Slum der indischen Hauptstadt Delhi um 1975/77 gezeigt, dass es durchaus möglich ist, die Reaktionen der betroffenen Menschen auf bevölkerungspolitische Programme in historischer Perspektive zu untersuchen. Sie selbst hat dies in einer bemerkenswerten Mischung von Archivarbeit vor Ort und oral history geleistet. Der hier zu besprechende Sammelband signalisiert eine Sättigung in der Erforschung der Rolle von Experten für die Geburtenkontrollpraktiken der Dritten Welt und legt insofern einen Perspektivwechsel nahe.

Drittens wäre den Studien zur Bundesrepublik zu wünschen, dass sie sich die in den Studien zur Dritten Welt durchgängige sozialstrukturelle Identifizierung jener Schichten, die im Fokus von Bevölkerungspolitiken standen, zu eigen machten. Oder in Frageform gewandelt: Ist das Konzept einer informierten Entscheidung und Selbstbestimmung des aufgeklärten Individuums über seine Gesundheit und Reproduktion nicht zuvörderst Ausdruck einer Klassenmoral der Mittelschichten? Richteten sich in der Bundesrepublik politische Strategien, die Gesundheit und ,richtiges‘ Reproduktionsverhalten durch „neue Praktiken des Selbstmanagements“ erreichen wollten (S. 260), nicht exklusiv an die gebildete Mittelklasse, während die Unterklassen entweder ganz aus dem Blick gerieten oder Objekte autoritär-disziplinierender Praktiken blieben? Strukturen sozialer Ungleichheit sollten stärker in Untersuchungen von Biopolitik mit einbezogen werden, als dies zumeist geschieht. Auch dies zeigen die Aufsätze des Sammelbandes, indem sie es immerhin ansatzweise versuchen.


Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015)



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