Karl Reitter und Daniel Schukovits in: Volksstimme

Gerstenberger, Heide. Markt und Gewalt

Globalgeschichte der kapitalistischen Ausbeutung

Über zehn Jahre hat Heide Gerstenberger an ihrem zweiten, großen Werk gearbeitet. In ihrem Versuch, eine Globalgeschichte der Ausbeutung vorzulegen, gelingt es Gerstenberger, lieb gewordene Vorurteile (nicht nur) im linken Denken in Frage zu stellen.
Von Karl Reitter und Daniel Schukovits

Untersuchte Heide Gerstenberger in "Die subjektlose Herrschaft" das Entstehen des modernen Staatsapparates anhand der Entwicklung in England und Frankreich, so folgte nun mit "Markt und Gewalt" eine weitere, umfangreiche sozialgeschichtliche Studie.

In "Die subjektlose Herrschaft" zeigt sie penibel auf, dass der Staat mitnichten bloß das Werkzeug der herrschenden Klassen ist, sondern - wie es auch Marx in seinen wichtigen staatstheoretischen Schriften klarstellt - sich historisch ein Gegensatz von Gesellschaft und Staat, und damit ein Gegensatz von sozialer und politischer Herrschaft, entfaltet hat. In "Markt und Gewalt" führt ihre umfangreiche und akribische sozialgeschichtliche Untersuchung zu dem Resultat, dass unmittelbare Gewalt bei der Produktion und Reproduktion der Klassenverhältnisse keineswegs bloß der Vorgeschichte des Kapitalismus angehöre.

Das domestizierte Arbeitsverhältnis

Am Zustandekommen dieser Auffassung ist auch Marx nicht ganz unschuldig. Insbesondere im Abschnitt zur ursprünglichen Akkumulation scheint er dazu zu neigen, unmittelbare Gewaltausübung in die Vorgeschichte des Kapitalismus zu verlegen, etwa in folgender Passage: "Für den gewöhnlichen Gang der Dinge kann der Arbeiter den ‚Naturgesetzen der Produktion' überlassen bleiben, d.h. seiner aus den Produktionsbedingungen selbst entspringenden, durch sie garantierten und verewigten Abhängigkeit vom Kapital. Anders während der historischen Genesis der kapitalistischen Produktion." (MEW 23; 765) Die von Gerstenberger angeführten Fakten sprechen eine andere Sprache und so kommt sie zur Schlussfolgerung: "Überall waren politische Kämpfe und politische Entscheidungen erforderlich, um jene Form der Arbeitsverhältnisse durchzusetzen, die uns heute als der kapitalistischen Produktionsweise adäquat gelten." (123) Weiters: "... von Ausnahmen abgesehen nutzten Kapitaleigner und ihre Beauftragten jene Form und jenes Ausmaß der Ausbeutung, die zu einer bestimmter Zeit und an einem bestimmten Ort möglich schien." (218) Anders gesagt, jene "domestizierte " Form der Arbeitsverhältnisse, wie wir sie heute als normal erachten, war und ist das Resultat mühevoller Kämpfe, keineswegs das notwendige oder gar logische Resultat der kapitalistischen Produktionsweise. Dass also der Kapitalismus, im Gegensatz zu vormodernen Verhältnissen, eine gewisse Humanisierung oder Sittlichkeit erfordert, kann wohl als Legende verabschiedet werden.

Dies ist bei Gerstenberger keine bloße Behauptung, sondern wird in durch einen sozialgeschichtlichen Durchgang von der Frühphase des Kapitalismus bis zur Gegenwart belegt. Das Buch beginnt mit einem Rückgriff auf die Geschichte. Sie zeigt, dass der aufkommende Welthandel seit seinem Beginn stets durch die Praxis direkter Gewalt begleitet war. Gewalt gegen Einheimische, Gewalt gegen Konkurrenten und vor allem Gewalt gegen Menschen. Grausamer Höhepunkt war neben der "Praxis von Mord und Raub" im Nationalsozialismus (388) zweifellos der Sklavenhandel und ihr brutaler Einsatz als Arbeitskräfte in Westindien und in den USA.

Zwei Punkte erscheinen uns an diesen Analysen besonders bemerkenswert. Erstens: Gerstenberger weist nach, dass die Sklavenbefreiung niemals ein Ziel der Amerikanischen Revolution war. "Nicht nur die Sklaverei, sondern auch ihr Verbot widersprach den Grundlagen der amerikanischen Verfassung. Denn diese war - darauf ist oben verwiesen worden - nur zustande gekommen, weil die Gründungsväter übereingekommen waren, auch das Privateigentum an Menschen als rechtmäßig zu akzeptieren." (92) Zweitens zeige das historische Material aber auch ökonomische Berechnungen, dass Kapitalismus und Sklavenarbeit durchaus kompatibel sei. Sklaven seien sehr wohl in hoch produktiven Bereichen in der Industrie eingesetzt gewesen, auch sei ein Arbeitsmarkt durch die Vermietung von Sklaven entstanden. Anders gesagt: Der freie Lohnarbeiter sei kein substanzielle Notwendigkeit des Kapitalismus, wie es bei Marx öfters anklingt. Selbst die Aneignung der Arbeitskraft unter den Bedingungen einer formal "freien Lohnarbeit", wie sie vielerorts im Zuge der Industrialisierung etabliert wurde, habe laut Gerstenberger der Gewaltförmigkeit keinen Abbruch getan: Die Durchsetzung von Arbeitsverträgen habe die realen Verhältnisse nur formal verändert, während der Status von ArbeiterInnen weiterhin von "doppelt freier Lohnarbeit" geprägt ist und Ausnahmen der erkämpften "Domestizierung" der Verhältnisse auch die Fortsetzung zuvor bestehender Ausbeutungsformen weitgehend ermöglichte.

Apropos Arbeitsverhältnisse: Gerstenberger belegt, dass in den Kolonien jeder Widerstand in den Arbeitsverhältnissen sofort als Widerstand gegen die Kolonialherrschaft interpretiert und dementsprechend grausam niedergeschlagen wurde. In den Siedlerkolonien sei mit den Einheimischen noch brutaler verfahren worden. Die Ausrottungspolitik gegenüber der amerikanischen Urbevölkerung ist bekannt, aber dass in Australien die Aborigines wie Tiere abgeknallt und systematisch mit Strychnin vergiftet wurden, ist der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt.

Gegenwart

Im zweiten Teil wendet sich Gerstenberger der Gegenwart und ihrer unmittelbaren Vorgeschichte zu. Sie dokumentiert, wie mühsam in England, Frankreich, Deutschland und den USA domestizierte Arbeitsverhältnisse erkämpft wurde, Rückschläge und Niederlagen inklusive. Es waren zwei Momente, die jene Arbeitsverhältnisse schufen, wie wir sie heute als normal empfinden.

Wie in den Kolonien, wurden Arbeitsverhältnisse auch in Europa als Staatssache und nicht als Privatverhältnisse aufgefasst. Streiks und ArbeiterInnenunruhen wurden als Störung der öffentlichen Ordnung, als Rebellion gegen den Staat aufgefasst. Schließlich gelang es in langwierigen Kämpfen, das Arbeitsverhältnis als Privatvertrag durchzusetzen, der nun der Zivil- und nicht mehr der Strafgerichtsbarkeit untersteht. Die tatsächliche "Domestizierung" der Arbeitsverhältnisse jedoch bedurfte des organisierten Widerstandes: Dieser setzte voraus, dass die ArbeiterInnen ein gemeinsames Bewusstsein über ihre Situation entwickelten und sich auch eine Repräsentanz im jeweiligen Staatsapparat erkämpften. Erst diese Konstellation machte es in den "Metropolstaaten" möglich, in weiten Teilen geregelte Formen kapitalistischer Ökonomie zu etablieren.

In diesem Zusammenhang könnte Gerstenbergers Darstellung als Ansatzpunkt für verschiedene staatstheoretische Konzeptionen dienen: Im Sinne der Hegemonietheorie Antonio Gramscis könnte dieser Prozess als fortgesetzter "Stellungskrieg" interpretiert werden. Damit wären die jeweilig erkämpften Rechte und Maßnahmen zur "Domestizierung" kapitalistischer Ausbeutung Gegenstand fortdauernder Auseinandersetzungen der Klassen auf Basis spezifischer Kräfteverhältnisse in den verschiedenen Ebenen der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Auch aus der Perspektive einer formanalystischen Betrachtung des Staates finden sich bei Gerstenberger Ansatzpunkte: So schaffe nach Johannes Agnoli der "Staat eine doppelte Vereinheitlichung: Synthese der bürgerlichen Gesellschaft zum einen und damit auch Integration oder Repression ihres negativen Elements; zum anderen Zusammenfassung der bürgerlichen Klasse und somit Bildung […] der Allgemeinheit des Produktionsverhältnisses als ökonomischer, sozialer, politischer Totalität."

Wiederkehr der Gewalt

Die Globalisierung bringe, so Gerstenberger, erneut eine Wiederkehr der unmittelbaren Gewalt. Gerstenberger zeigt dies auf mehreren Ebenen. So gäbe es durch die Entgrenzung der Warenform neue Märkte, wie jene für Waffen, Organe, Haare und Menschen, die strukturell mit Gewalt verbunden sind. Ebenso der Handel mit Giftmüll und gefährlichen Abfällen. Globalisierung bedeute auch einen massiven Anstieg von Landkauf inklusive der Vertreibung der BewohnerInnen mit juristischen Tricks aber auch mit unmittelbarer Gewalt. "Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sind weltweit mindestens 200 Millionen Hektar von ausländischen Großinvestoren mittels Käufen oder Pachtverträgen akquiriert worden." (578) Gerstenberger zeigt dies vor allem anhand von Brasilien und Äthiopien auf. Regierungen seien bereit, die Domestizierung angesichts versprochener wirtschaftlicher Vorteile zurückzunehmen. Offshore ist ein begrenzter Raum innerhalb eines Staates, in dem geltende Gesetze modifiziert oder aufgehoben wurden. Die Situation für Arbeitskräfte ist dort in der Regel wesentlich verschlechtert. "Manche nationalen Gesetze gelten auch Offshore, insgesamt herrscht Kapitalismus, und zwar in einer weitgehend nicht-domestizierten Form." (476) Auch die neuen Formen des Söldnertums erhöhen das weltweite Gewaltpotential.

Theoretisch und methodisch bedeutsam ist insbesondere ihr Aufweis, dass zwischen offener Sklaverei und domestizierten, gesitteten Arbeitsverhältnissen stets eine ganze Bandbreite minder freier Arbeit existiere und existiert. Dazu zählt Knechtschaft auf Zeit, also weitgehende Rechtlosigkeit für den vereinbarten Arbeitszeitraum, Arbeit in geschlossenen, nach außen abgeschotteten Betriebsstätten, vor allem in Bergwerken und auf Schiffen, Arbeit unter den Bedingungen der Migration, wobei Hausangestellte besonders gefährdet sind. Viele dieser Arbeitsverträge auf Zeit werden mittels falscher Versprechungen, Drohungen und offenem Betrug durchgesetzt. Insbesondere in arabischen Ländern und in Südostasien sind die migrantischen Hausarbeiterinnen oftmals körperlicher Gewalt und Demütigungen ausgesetzt. Die Schilderung derartiger Zustände verdeutlicht ebenso wie die Darstellung des fortdauernden Menschenhandels, zumeist in Zusammenhang mit Sexarbeit, wie verschränkt kapitalistische und patriarchale Formen der Ausbeutung - unter rassistischen Vorzeichen - sind. So stellt Gerstenberger präzise dar, dass eine "Domestizierung" kapitalistischer Aneignung stets auch gleichzeitig verschiedener Graubereiche bedarf, in denen der gewaltsamen Ausbeutung kaum Schranken auferlegt sind.

Kein Automatismus

In Summe zeigt Gerstenberger, dass die Globalisierung zu einer neuen Welle der Gewalt führte: "Inzwischen hat die reale Entwicklung des globalisierten Kapitalismus nicht nur diese Erwartung, sondern auch die Hoffnung auf eine allgemeine Verbesserung von Lebensumständen mittels fortwährenden Wirtschaftswachstum widerlegt. Zusätzlich widerlegt hat sie die Annahme, ein social upgrading von Arbeitsbedingungen sei unausweichliche Folge der Einführung technisch anspruchsvoller Produktionsverfahren." (673) Keine innere Notwendigkeit, keine strukturelle Erfordernis hält das Kapital davon ab, Arbeitskräfte durch eine entgrenzte Ausbeutung zu vernutzen. "So nachdrücklich die genauere Betrachtung des historisch realen Kapitalismus die These bestätigt, dass Eigner von Kapital sich der Tendenz nach aller Mittel zur Erzielung von Profit bedienen, deren Einsatz ihnen nicht erfolgreich verweht wird, so eindeutig hat sich auch gezeigt, dass Öffentlichkeit und Regierungen solche Praxis unterbinden können." (674) Ob und in welcher Form dies tatsächlich geschieht, ist und bleibt jedenfalls Gegenstand politischer und sozialer Kämpfe. Die vorliegende Darstellung verdeutlicht nämlich eindringlich, dass es keinen geschichtlichen Automatismus zur Begrenzung gewaltförmiger kapitalistischer Ausbeutung gibt.

Link zur "Volksstimme" (Nr. 12, Dezember 2017)

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