Michael Rahlwes in: DAS ARGUMENT

Hackbarth, Daniel. „denken entlang der Politik“

Die aus einer Dissertation hervorgegangene Studie möchte die Althusser-Schule und die kritische Theorie Horkheimers in einen Dialog bringen, den der Horkheimer-Schüler Alfred Schmidt mit Geschichte und Struktur (1971) lange Zeit verstellt hatte. Mehr noch: Gegenwärtig sei der Materialismus-Begriff »nur noch von historischem Interesse«, denn nach dem Untergang des Staatssozialismus sei die Gelegenheit nicht ergriffen worden, ihn »jenseits seiner Funktionalisierung neu zu durchdenken« (9). Horkheimer wie Althusser, so die These, verstünden unter Materialismus ein Denken, das in gesellschaftliche Verhältnisse und Kämpfe eingreife, verändernde Praxis sei, weder den Sieg der Arbeiterklasse metaphysisch absichere, noch revolutionäre Praxis mittels einer humanistischen Anthropologie begründe (11f). Beide lehnten Ursprungsphilosophien ab (68), erklärten gesellschaftliche Prozesse nicht nur >ökonomisch< (70) und verstünden Denken und Theorie als Teil gesellschaftlicher Kämpfe (80ff). Damit wird verständlich, warum Begriffe wie Praxis, Totalität, Überdetermination und Widerspruch in das Zentrum der Studie rücken.

Nach der »Einleitung« (9-14) wird im Kapitel Materialismus als Weltanschauung der proletarischen Bewegung (15ff) Engels’ Anti-Dühring als Vorläufer des von Stalin dogmatisierten Marxismus-Leninismus eingeführt. Er habe »zweifellos das Entstehen bürokratischer Diktaturen in den zumindest nominell sozialistischen Staaten« (16f) insofern ermöglicht, als »er eine Geschichtsphilosophie entwickelt [habe], die die Verlängerung einer dialektischen Naturtheorie darstellt und zugleich Kriterien dafür generiert, welchen politischen Praxen progressiver und regressiver Charakter zuzuschreiben ist« (ebd.). Engels wird letztlich auf die Formel »Aufklärungskritik/mechanischer Materialismus plus Hegels Geschichtsphilosophie« (29) gebracht, die in Stalins »Unterordnung der politischen Praxis unter die (vermeintlichen) Gesetzmäßigkeiten der Geschichte ganz explizit« (46) ihre Fortsetzung fand.

Gegen dieses stalinsche »Ordnungsdenken« (42) wird Horkheimers historischer Materialismus vorgestellt (52ff), wie er v.a. mit dem Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie (1937) vorliegt. Hackbarth liest ihn als einen praxisphilosophischen Text, der theoretische Praxis »immer auch [als] Kampf an der Seite der Subalternen« (81) konzipiert und auf kulturelle Hegemonie orientiert (84, Fn. 99). Diese Lesart rückt Horkheimer von hegelmarxistischen Konzeptionen weg, nur bezieht Hackbarth dies kaum auf Althusser und v.a. nicht auf dessen Humanismuskritik.

Aufwendig erinnert er jedoch an die französische Diskussionslandschaft, in die Althusser als Mitglied der PCF intervenierte. Mit Sartre und Lefebvre, sowie mit der Hegelinterpretation Kojèves habe es eine humanistische Othodoxie gegeben (131), die Althusser durch den Import von Freud und die französische Epistemologie zu unterlaufen versuchte (135) und damit den Ruf »eines Hüters der marxistischen Wissenschaftlichkeit « (138, Fn. 11) erhalten habe.

Althussers Denken wird in drei Phasen eingeteilt: In die von 1960–65, mit der Frage nach einem marxistischen Erkenntnisobjekt, womit Althusser einem metaphysischen Projekt gefolgt sei. Dies ändere sich mit dem Ansatz von 1967, »die philosophische Praxis als Weiterführung der Politik in der Theorie« (142) zu verstehen. Jetzt lehnte Althusser es ab, zu begründen, wieso er marxsche Begriffe zum Ausgangspunkt seiner Philosophie wählt; es sei ihm um die Erkenntniseffekte der marxschen Theorie gegangen. Hackbarth referiert: «Der Prozess der theoretischen Praxis vollzieht sich vollständig theorie-immanent, das heißt dass die Realobjekte >unberührt< von diesem Prozess bleiben» (173). Zwar ist auch für Horkheimer die Theorieproduktion zunächst immanent zu denken; die Begriffe erzeugen in dem Verhältnis zueinander erst die Theorie der Gesellschaft, die aber auch durchgeführt, also praktiziert werden muss. Gerade die Veränderung des Realobjekts, etwa die Emanzipation von unvernünftigen Verhältnissen, ist bei Horkheimer aufs Engste mit Kritischer Theorie verbunden. Diese ist zugleich ein Eingriff in die Verhältnisse.

Althussers zweite Phase bestimme der Vortrag Lenin und die Philosophie (1968) und die hier entwickelte These, dass »philosophische Interventionen als politische Eingriffe im Medium der Theorie zu begreifen sind« (179). Lenin sei wichtig geworden, weil das Diktum einer konkreten Analyse der jeweiligen historischen Situation zum Begriff der Überdetermination von Widersprüchen und zur Vorstellung von der Gesellschaft als eines komplex strukturierten Ganzen geführt habe. Anstelle eines abstrakten Theoriebegriffs soll die jeweilige historische Konjunktur der Kräfteverhältnisse analysiert werden. Hierbei sei es Althusser v.a. darum gegangen, das Verhältnis von Haupt- und Nebenwidersprüchen, die Rolle der Ökonomie und die Frage nach gesellschaftlichen Brüchen zu denken. Hackbarth widerspricht Jacques Derrida, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, die die Determination in letzter Instanz durch die Ökonomie noch für ein Zugeständnis an die PCF hielten, bzw. für ein Rudiment des Ökonomismus, wogegen er darauf insistiert, dass es doch um die relative Autonomie der Überbauinstanzen gegangen sei (235). Die dritte Phase ist mit dem Begriff des aleatorischen Materialismus verbunden. Dieser setze bei Marx in der Begegnung von Kapitalist und Verkäufer der Ware Arbeitskraft an und beruhe auf kontingenten Grundlagen, d.h. die Reproduktion der Ware Arbeitskraft muss immer wieder von Neuem erfolgen (273). Hackbarth sieht dieses Projekt indes kritisch: »Politik ist keine Sache des Schicksals« (282). Er zieht die konkrete Analyse der je gegenwärtigen Konjunktur einer Theorisierung des Zufalls vor.

Zwei Exkurse und eine Zusammenfassung beschließen die Studie. Die Exkurse präsentieren eine vornehmlich englischsprachige Althusser-Diskussion (287ff). Martin Saar wird für seine Spinoza-Rezeption kritisiert, die die Entfaltung der Potenziale der multitude institutionell bändigen möchte, während Chantal Mouffe erneut dafür geziehen wird, das Politische völlig autonom zu denken (297ff).

Der Studie gelingt eine umfassende Darstellung und Kontextualisierung der Denkentwicklung Althussers. Ihr Resultat indes erscheint mit dem Fazit, Althusser und Horkheimer teilten eine Konzeption, »die den Materialismus als speziische Form theoretischer Praxis intrinsisch mit der Politik [...] verknüpft« (302), etwas dünn. Auch bleibt eine eingehendere kritische Konfrontation der gesellschaftstheoretischen Entwürfe von Horkheimer und Althusser weitgehend aus. Das ist umso bedauerlicher, als beide – wenn auch zu anderer Zeit – vor ähnlichen Problemen standen.

Michael Rahlwes (Berlin)

Das ARGUMENT 318/2016

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