Hackbarth, Daniel. „denken entlang der Politik“
Die aus einer Dissertation hervorgegangene Studie möchte die Althusser-Schule und
die kritische Theorie Horkheimers in einen Dialog bringen, den der Horkheimer-Schüler
Alfred Schmidt mit Geschichte und Struktur (1971) lange Zeit verstellt hatte. Mehr noch:
Gegenwärtig sei der Materialismus-Begriff »nur noch von historischem Interesse«, denn
nach dem Untergang des Staatssozialismus sei die Gelegenheit nicht ergriffen worden, ihn
»jenseits seiner Funktionalisierung neu zu durchdenken« (9). Horkheimer wie Althusser, so
die These, verstünden unter Materialismus ein Denken, das in gesellschaftliche Verhältnisse
und Kämpfe eingreife, verändernde Praxis sei, weder den Sieg der Arbeiterklasse metaphysisch
absichere, noch revolutionäre Praxis mittels einer humanistischen Anthropologie
begründe (11f). Beide lehnten Ursprungsphilosophien ab (68), erklärten gesellschaftliche
Prozesse nicht nur >ökonomisch< (70) und verstünden Denken und Theorie als Teil gesellschaftlicher
Kämpfe (80ff). Damit wird verständlich, warum Begriffe wie Praxis, Totalität,
Überdetermination und Widerspruch in das Zentrum der Studie rücken.
Nach der »Einleitung« (9-14) wird im Kapitel Materialismus als Weltanschauung
der proletarischen Bewegung (15ff) Engels Anti-Dühring als Vorläufer des von Stalin
dogmatisierten Marxismus-Leninismus eingeführt. Er habe »zweifellos das Entstehen
bürokratischer Diktaturen in den zumindest nominell sozialistischen Staaten« (16f) insofern
ermöglicht, als »er eine Geschichtsphilosophie entwickelt [habe], die die Verlängerung
einer dialektischen Naturtheorie darstellt und zugleich Kriterien dafür generiert,
welchen politischen Praxen progressiver und regressiver Charakter zuzuschreiben ist«
(ebd.). Engels wird letztlich auf die Formel »Aufklärungskritik/mechanischer Materialismus
plus Hegels Geschichtsphilosophie« (29) gebracht, die in Stalins »Unterordnung
der politischen Praxis unter die (vermeintlichen) Gesetzmäßigkeiten der Geschichte ganz
explizit« (46) ihre Fortsetzung fand.
Gegen dieses stalinsche »Ordnungsdenken« (42) wird Horkheimers historischer
Materialismus vorgestellt (52ff), wie er v.a. mit dem Aufsatz Traditionelle und kritische
Theorie (1937) vorliegt. Hackbarth liest ihn als einen praxisphilosophischen Text, der
theoretische Praxis »immer auch [als] Kampf an der Seite der Subalternen« (81) konzipiert
und auf kulturelle Hegemonie orientiert (84, Fn. 99). Diese Lesart rückt Horkheimer
von hegelmarxistischen Konzeptionen weg, nur bezieht Hackbarth dies kaum auf Althusser
und v.a. nicht auf dessen Humanismuskritik.
Aufwendig erinnert er jedoch an die französische Diskussionslandschaft, in die
Althusser als Mitglied der PCF intervenierte. Mit Sartre und Lefebvre, sowie mit der
Hegelinterpretation Kojèves habe es eine humanistische Othodoxie gegeben (131), die
Althusser durch den Import von Freud und die französische Epistemologie zu unterlaufen
versuchte (135) und damit den Ruf »eines Hüters der marxistischen Wissenschaftlichkeit
« (138, Fn. 11) erhalten habe.
Althussers Denken wird in drei Phasen eingeteilt: In die von 196065, mit der Frage
nach einem marxistischen Erkenntnisobjekt, womit Althusser einem metaphysischen
Projekt gefolgt sei. Dies ändere sich mit dem Ansatz von 1967, »die philosophische
Praxis als Weiterführung der Politik in der Theorie« (142) zu verstehen. Jetzt lehnte
Althusser es ab, zu begründen, wieso er marxsche Begriffe zum Ausgangspunkt seiner
Philosophie wählt; es sei ihm um die Erkenntniseffekte der marxschen Theorie gegangen.
Hackbarth referiert: «Der Prozess der theoretischen Praxis vollzieht sich vollständig
theorie-immanent, das heißt dass die Realobjekte >unberührt< von diesem Prozess
bleiben» (173). Zwar ist auch für Horkheimer die Theorieproduktion zunächst immanent
zu denken; die Begriffe erzeugen in dem Verhältnis zueinander erst die Theorie
der Gesellschaft, die aber auch durchgeführt, also praktiziert werden muss. Gerade die
Veränderung des Realobjekts, etwa die Emanzipation von unvernünftigen Verhältnissen,
ist bei Horkheimer aufs Engste mit Kritischer Theorie verbunden. Diese ist zugleich ein
Eingriff in die Verhältnisse.
Althussers zweite Phase bestimme der Vortrag Lenin und die Philosophie (1968) und
die hier entwickelte These, dass »philosophische Interventionen als politische Eingriffe
im Medium der Theorie zu begreifen sind« (179). Lenin sei wichtig geworden, weil das
Diktum einer konkreten Analyse der jeweiligen historischen Situation zum Begriff der
Überdetermination von Widersprüchen und zur Vorstellung von der Gesellschaft als
eines komplex strukturierten Ganzen geführt habe. Anstelle eines abstrakten Theoriebegriffs
soll die jeweilige historische Konjunktur der Kräfteverhältnisse analysiert werden.
Hierbei sei es Althusser v.a. darum gegangen, das Verhältnis von Haupt- und Nebenwidersprüchen,
die Rolle der Ökonomie und die Frage nach gesellschaftlichen Brüchen zu
denken. Hackbarth widerspricht Jacques Derrida, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe,
die die Determination in letzter Instanz durch die Ökonomie noch für ein Zugeständnis
an die PCF hielten, bzw. für ein Rudiment des Ökonomismus, wogegen er darauf insistiert,
dass es doch um die relative Autonomie der Überbauinstanzen gegangen sei (235).
Die dritte Phase ist mit dem Begriff des aleatorischen Materialismus verbunden. Dieser
setze bei Marx in der Begegnung von Kapitalist und Verkäufer der Ware Arbeitskraft
an und beruhe auf kontingenten Grundlagen, d.h. die Reproduktion der Ware Arbeitskraft
muss immer wieder von Neuem erfolgen (273). Hackbarth sieht dieses Projekt indes
kritisch: »Politik ist keine Sache des Schicksals« (282). Er zieht die konkrete Analyse der
je gegenwärtigen Konjunktur einer Theorisierung des Zufalls vor.
Zwei Exkurse und eine Zusammenfassung beschließen die Studie. Die Exkurse
präsentieren eine vornehmlich englischsprachige Althusser-Diskussion (287ff). Martin
Saar wird für seine Spinoza-Rezeption kritisiert, die die Entfaltung der Potenziale der
multitude institutionell bändigen möchte, während Chantal Mouffe erneut dafür geziehen
wird, das Politische völlig autonom zu denken (297ff).
Der Studie gelingt eine umfassende Darstellung und Kontextualisierung der Denkentwicklung
Althussers. Ihr Resultat indes erscheint mit dem Fazit, Althusser und Horkheimer
teilten eine Konzeption, »die den Materialismus als speziische Form theoretischer
Praxis intrinsisch mit der Politik [...] verknüpft« (302), etwas dünn. Auch bleibt eine
eingehendere kritische Konfrontation der gesellschaftstheoretischen Entwürfe von Horkheimer
und Althusser weitgehend aus. Das ist umso bedauerlicher, als beide wenn auch
zu anderer Zeit vor ähnlichen Problemen standen.
Michael Rahlwes (Berlin)
Das ARGUMENT 318/2016