Helmut Krieger, Magda Seewald, VICD in: inamo 92

Helmut Krieger/Magda Seewald/VICD (Hrsg.): Krise, Revolte und Krieg in der arabischen Welt

Die arabische Welt: Krisen, Krieg, Revolten Unter dem Titel Krise, Revolte und Krieg stellen Helmut Krieger und Magda Seewald eine Reihe von Autorinnen und Autoren vor, die sich mit dem Arabischen Frühling und seiner Entwicklung beschäftigen. Es sind WissenschafterInnen und SchriftstellerInnen mit intensivem Bezug zur Region, die dem/der deutschsprachigen Leser/in die Chance geben, durch ihre Augen auf einen der gewaltigsten Umbrüche des letzten halben Jahrhunderts zu schauen. Ein Anspruch des Bandes ist es, das übliche kulturalisierende Sprechen über den arabisch-islamischen Raum zu konterkarieren. Der dominierende Diskurs, der Prozesse und Individuen nach religiösen und kulturellen Denkschablonen zuschneiden will, soll durchbrochen werden. Solche Muster dienen nämlich dazu "Krieg zu normalisieren" und "Aufstandsbekämpfungsstrategien (…) zu zelebrieren".

In seinem Eingangsbeitrag schlägt Helmut Krieger einen breiten Bogen von der Finanzkrise der 1980er-Jahre, über Strukturanpassungsprogramme des IWF und daraus folgender Erosion der Rechte, Verelendung und Repression aus welcher vielfältige Kämpfe, die zweite palästinensische Intifada und ein klassenübergreifender Widerstand gegen US-Invasionen im Irak resultierten. Sie bereiteten den Boden für die umfassenderen späteren Aufstände. Diese wurden getragen durch Mittelschichtsangehörige ebenso wie Subalterne und ArbeiterInnen sowie verschiedene IdeologieträgerInnen. Sie alle einte die Forderung nach demokratischen Prozessen.
2011 waren es dann Saudi-Arabien und seine Verbündeten, die in Bahrain und Ägypten repressiv intervenierten. Dabei bedienten sie sich einer dreifachen Strategie, bestehend aus Spaltung der Protestbewegungen entlang konfessioneller und ethnischer Linien bei deren gleichzeitiger Militarisierung, womit Krieger wohl das Einschleusen von Provokateuren, Waffen oder die Ausübung gezielter Attentate meint. Zudem wurde Staatsterror ausgeübt und die Bildung regionaler und internationaler Allianzen forciert. Dass diese Dreifachstrategie greifen konnte, führt er auf "diffuse Organisationsformen" und wenig entwickelte strategische Konzepte und Programmatiken zurück. Seit dem Zeitalter des Imperialismus hatten Großmächte kein Interesse an einer Selbstbestimmung der von ihnen kontrollierten und unterdrückten Bevölkerung. Der Kolonialismus änderte im Laufe der Jahrzehnte seine Form, aber nicht den Inhalt. Die Revolte trug die jahrhundertealte Sehnsucht nach Freiheit in sich. Auf Grund der enormen ökonomischen Bedeutung des Arabischen Raums spricht Krieger von einer "potenziellen Bedrohung des globalen Kapitalismus" durch die arabischen Revolten. Seine scharfe Kritik der NATO-Bombardierung Libyens unter Missbrauch des humanitären Titels ist mehr als berechtigt.
Durch Konkurrenz zwischen USA und Russland ist der multipolare Krieg in Syrien gezeichnet. Der Poker um die Aufteilung des Landes ist in vollem Gange. Der Preis: Systematische Zerstörung und Traumatisierung der Bevölkerung.

Es sind die westlichen Interventionen, die Sabah Alnasseri analysiert. Er spricht deutlich aus, was in der eingänglichen Analyse nicht erwähnt wird: Die Zusammenarbeit der westlichen Regierungen mit den konservativen Regimes UND extremistischen Gruppen. Er bringt zudem einen weiland unterbelichteten Aspekt ins Spiel: Die ideologische Einmischung des Westens. Alnasseri beschreibt einen Mechanismus der medialen Konstruktion von "demokratischen-Aktivist_innen", der zwecks dem Ruf nach Interventionen des Westens gebaut ist. Doch was bedeutet heute Demokratie? Eine von der Bevölkerung gewollte Demokratie steht konträr zur Demokratie, die mit Waffengewalt durchgesetzt wird und bei der das Wort nur ein Vorwand ist. Tatsächlich wird der arabische Raum zu einem Labor für eine "Kultur der Konflikteskalation" gemacht. Der Krieg selbst wird zur 'Demokratie'. In den Metropolen wiederum lässt sich dieses Konzept gut verkaufen. Es ist den Menschen hier nicht einsichtig, dass Demokratie im arabischen Raum derzeit die Installation von Diktatur und Besatzung bedeutet. Überwachungs- und Kontrolltechniken schaffen parallel in den Metropolen "Innenräume der Intervention" gegen Dissens und "die Anderen". Anhand des Ablaufs der NATO-Militärintervention in Libyen zeigt Alnasseri exemplarisch auf, wie unbedingt die westlichen Mächte einen Regimewechsel in dem Land herbeiführen wollten. Vermittlungserfolge der Afrikanischen Union wurden einfach ignoriert. U.a. ging es um die Beseitigung massiver chinesischer und russischer Investitionen. Anti-Regime Kräfte zu stützen, bedeutete IS und Ähnliche zu fördern. Dabei sind die Invasoren sich nicht eins, außer in dem Punkt, wo es um "Eindämmung und Zähmung der Revolutionen" geht. Dass diese Politik zurückschwingt, macht sich in Form der Gespenster 'Flüchtlingsfrage' und 'Terrorattacken' sowie allgemein zunehmender Instabilität bemerkbar.

Maya Mikdashi kritisiert in ihrem Beitrag die Reduktion der Geschlechterfrage auf Frauen und LGBTQ-Personen, wenn es um den arabischen Raum geht. Zudem wird die Frage immer in Relation zur Religion gesetzt, so als ob es sie vor dem Aufkommen islamistischer Kräfte nicht gegeben hätte. Mikdashi meint, dass dieses Phänomen eher mit Islamophobie zu tun hat. Damit schafft sich ein repressiver Staat, wie jener von Al-Sisi in Ägypten, eine Art säkulares Alibi unter dem er scharfe Repressionen genau gegen Frauen und LGBTQ-Personen ausübt und darüber noch den Deckmantel der Terrorbekämpfung legt. Israel betreibt dagegen ein "pinkwashing" seines Siedlerkolonialismus: Über die Zuschreibung von Homophobie an die muslimischen PalästinenserInnen stellt es sich als Hort der Liberalität dar. Mikdashi will Frauenrechte der Forderung nach politischer Gerechtigkeit eingeschrieben wissen.

Was im Interview mit Cilija Haiders besonders schön hervortritt, sind die vielen positiven Veränderungen, die der Protest mit sich gebracht hat. Da wäre einmal die grundlegende Erfahrung, dass auch noch so mächtig scheinende Autokraten gestürzt werden können, wenn sehr viele Menschen auf die Straße gehen. Es gab insgesamt eine Rückeroberung des Politischen, die Bevölkerung hat gefordert und gehandelt. Darüber wurde ein Raum geöffnet in dem politische Akteure zum Beispiel über die Stellung der Religion in der Gesellschaft miteinander in Diskussion treten konnten. Was die Revolutionen von 2011 so außerordentlich gemacht hat, war die Verknüpfung der Vorstellung von inklusiver Demokratie mit sozioökonomischen Gerechtigkeitskonzepten. Eine "westliche Demokratie" war in den Augen der Protestierenden keine vertrauenswürdige Alternative. Aufstände brauchen aber Programm und Strategie, wenn man Mehrheiten überzeugen will. Es hätte auch die Möglichkeit gegeben, transnationale Koalitionen zu schmieden, zum Beispiel über Kritik am globalen Kapitalismus und seinen Repressionsstrategien. Harders spricht sich gegen die 'Rhetorik des Scheiterns' aus, wenn über den arabischen Frühling gesprochen wird. Vielmehr ist die gesellschaftliche Transformation nach wie vor im Gange. Sie weist darauf hin, dass die Situationen im arabischen Raum die Gesellschaft in Europa ebenso verändern. Den Diskursen um nationale Selbstvergewisserung muss entgegengehalten, solidarische und friedenspolitische Praxen entwickelt werden.

Hamid Dabashi weist in seinem Beitrag "Ich bin Sushi" die herkömmlichen Erklärungsmuster entlang Linien der Konfession (Schia/Sunna) oder/und Ethnie (Araber/Perser) zurück. Die sind nämlich keine Erklärungen, sondern Ergebnisse politischer Prozesse. Der heutige Konfessionalismus ist ein Produkt des Kolonialismus, in welchem MuslimInnen dabei mitwirkten den Islam seines Pluralismus zu berauben, auch um sich durch ihn dem Westen zu widersetzen. Für Dabashi sind Sunna und Schia lediglich zwei verschiedene Wege mit dem Tod des Propheten zurechtzukommen. Über Jahrhunderte haben SunnitInnen und SchiitInnen zusammengelebt und geheiratet. Die Aufmerksamkeit in Europa soll sich von diesen Konfessionalisierungen weg vielmehr auf die MuslimInnen hin richten, die nach Europa kommen. Denn durch die Migrationsbewegungen ist Europa aufgefordert, sich seinem kolonialen Erbe zu stellen.

Die Journalistin Charlotte Wiedemann verwischt in ihrem Beitrag die propagandistischen Grenzen des Wir (Westen) und Sie (JihadistInnen). Real sterben unter dem Terror am meisten MuslimInnen und der IS ist der größte Zerstörer islamischer Werte. Europa jedoch sieht sich selbst als das größte Opfer, auch um ein Interventionsrecht zu konstruieren. Ein weiterer proklamierter Gegensatz ist die gute gegen die böse Gewalt. Dabei hat genau die "gute" westliche Politik das Blutbad in der arabischen Welt mit herbeigeführt. Der Wert weißen Lebens spiegelt sich in der Fokussierung auf Terroranschläge und in der Kriegsberichterstattung wider. Das Böse wird außerhalb Europas verortet. Die Friedensbewegung ist der Anti-Terror Legende zum Opfer gefallen. Es gibt keine bipolare Struktur mehr, sondern eine neue polyzentrische Weltordnung. Wiedemann sieht einen Zusammenhang zwischen dem Verlust westlicher Hegemonie und dem Bedeutungsverlust der arabischen Länder.

Im dritten Teil des Buches wird der Fokus auf die Länder Ägypten, Irak, Syrien, Palästina, Saudiarabien, Jemen und Tunesien gelegt. Rahab El Mahdi beschreibt den Aufstand in Ägypten als Teil globaler Veränderung innerhalb eines Systems in der Krise und spiegelt den Widerstand als Teil von Kämpfen mit Forderung nach Gerechtigkeit auf der ganzen Welt. Er charakterisiert die Revolte in Ägypten als einen Klassenkampf, deren ProtagonistInnen es nicht ermöglicht wurde, sich in wichtige Entscheidungen auf prozessualer Ebene einzubringen. Das erledigten Repräsentanten der Mittelklasse. Revolutionäre Forderungen nach strukturellen Veränderungen blieben uneingelöst; - was die Fortsetzung der sozialen Revolten in sich birgt.

Die Autorin und Aktivistin Haifa Zagana schreibt über den Irak aus einer Perspektive des Wir. Ein Wir, dass mit dem Tod lebt. Sie beschreibt die verheerenden Schäden der Kriegsjahre seit 1980 auf Umwelt und Menschen. Die neokoloniale Praxis der Erpressung hat zur Institutionalisierung einer Korruptionskultur geführt. Die Behörden sind in Menschenrechtsverletzungen und Anwendung von Folter verwickelt. NGOs sind in Wirklichkeit Regierungsorganisationen. Zagana beschreibt sehr schön die Widerstandsformen irakischer Frauen über blogs und Konferenzen als wahre marginalisierte Stimmen. Die Nichtverfolgung der Gerechtigkeit für die Inhaftierung von mehr als 40.000 IrakerInnen durch die irakische Regierung und US-Besatzungsmacht, hat den Boden für die weiteren Katastrophen bereitet. Ausländische "humanitäre" Einmischung, unter dem Scheinziel der Terrorbekämpfung treibt die Bevölkerung nur weiter in mehr Leid und zur Flucht. Die zynische Inszenierung kinderfreundlicher Aktivitäten durch die US-Botschaft ist der Versuch einer Reinwaschung ihrer Verbrechen an den irakischen Kindern. Diverse Initiativen zur 'Rettung des Landes' müssen die Ursachen für den Zustand des Landes behandeln, um den Irak vor Terror und Spaltung zu bewahren.

Salwa Ismail beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Bevölkerung in Syrien. Jahrzehnte einer speziellen, umfassenden und extremen Gewaltherrschaft durch das Assad-Regime beschleunigten den Aufstand der SyrerInnen, die sich zur Verteidigung ihrer Würde erhoben hatten. Die Inhaftierung von Kindern, die Parolen des Frühlings in Tunesien und Ägypten auf Schulmauern geschrieben hatten, lösten Demonstrationen aus, die sich mit sozialen Protesten mischten. Das Regime war zwecks seinem Machterhalt von Anfang an zu brutaler Gewalt entschlossen. Ein politischer Konfessionalismus ging vom Regime aus, welches durch Spaltung konfessionelle Minderheiten für sich reklamierte. Die extreme Spaltung allerdings zwischen dem Regime und der Bevölkerung wird durch die gewaltsame Fortsetzung der assadschen 'politischen Religion' weiter vertieft.

Adam Hanie entwickelt in seinem Beitrag scharfe Kritik an einer Hilfsindustrie, die glaubt Entwicklung in den besetzten palästinensischen Gebieten vom israelischen Siedlerkolonialismus entkoppeln zu können. Der Rahmen für diese Entwicklungspraxis wird vom SiedlerInnenkolonialismus in der Weise vorgegeben, dass er ihm gleichzeitig Deckung gibt. Fragmentierung ist ein wesentliches Element, das schon seit 1948 der zionistischen Kolonialisierung innewohnt. Schon in der Sprache wird die Fragmentierung der palästinenischen Bevölkerung immer wieder aufs Neue wiederholt und damit bestätigt. Das bringt die schleichende Normalisierung einer beabsichtigten Trennung mit sich: Gaza, Westbank, Israel, Flüchtlinge, Diaspora. Israelische Herrschaft zwingt seit 1967 und verstärkt mit Oslo die PalästinenserInnen in den besetzten Gebieten dazu, in einer bestimmten Weise zu reagieren. Ein Mittel zur Kontrolle ist die Etablierung eines Wirtschaftssystems, das Israel maximalen Profit aus der Besatzung beschert. Von der Weltbank werden Machtverhältnisse völlig ausgeblendet, sodass der israelische Kolonialismus als 'Partner' direkt in die 'Entwicklungs'maßnahmen miteingebunden wird. Die PA hat das und die allgemeine neoliberale Diktion dahinter übernommen, sodass internationale Finanzinstitutionen die Wirtschaft in Palästina anordnen. Resultat: Reichtum für einige wenige, Verarmung der Mehrheit. Durch die Ausbreitung der Finanzwirtschaft kommt es zur Verschuldung großer Bevölkerungsanteile, die wiederum eine konservative, individualisierte Hemmschwelle für kollektive Kämpfe erzeugt. Fazit: Es gibt keine Neutralität von Entwicklung! Herrschaft muss bloßgestellt werden. Zuletzt gibt Hanieh Antworten auf die Frage wie Entwicklung als Form von Widerstand und Kampf verstanden werden kann und dass sie auf die arabische Welt auszuweiten ist.

Die Resilienz des saudischen Ragimes untersucht Madawi Al-Rasheed. Die Zersplitterung der saudischen Opposition, die Propaganda der sunnitischen Rechtsmeinung, wonach dem Herrscher Gehorsam gebühre und die Gewalt in den Nachbarländern sind drei wichtige Gründe dafür. Der Protest in SA äusserte sich über Reformvorschläge, die mit Forderungen nach Gewaltenteilung, freier Meinungsäußerung und Freilassung politischer Gefangener an das Königshaus herangetragen wurden. Mit Rückgriff in die Geschichte erklärt Al-Rasheed die DNA des Regimes. Er zeigt die regionalen Unterschiede im Land auf, die sich sozioökonomisch ausdrücken und immer wieder Anlass für Kritik sind. Der saudisch-religiöse Nationalismus schließt Minderheiten aus und dämonisiert sie. Intellektuelle folgen der staatlichen Agenda, RegimekritikerInnen werden erfolgreich gegeneinander ausgespielt. Die Jugend pflegt einen angepassten Aktivismus, um sich materiell abzusichern, aber es gibt auch fundamentale Kritik, wenn auch -gezwungenermaßen- verborgen. Viele haben versucht den arabischen Frühling nach Saudi-Arabien zu tragen. Der Krieg gegen den Jemen jedoch einte die antiiranisch geimpfte Bevölkerung und festigte das Regime aufs Neue. Die Anwendung der Teile- und Herrsche Strategie wird sich jedoch letztendlich gegen das Regime selbst wenden.

Der Konflikt im Jemen, so Elham Manea, hat auf der nationalen Ebene mit einem Machtkampf von Kerneliten zu tun, mit Ausgrenzung von Minderheiten, die religiöse Forderungen haben sowie regionalem Aufbegehren gegen eine Zentralmacht. Auf einer größeren regionalen Ebene sieht Manea einen Stellvertreterkrieg zwischen Iran und Saudi-Arabien. Eine lange Geschichte gescheiterter Staatenbildung kennzeichnet die Geschichte des Jemen. Entlang vieler Frakturen schlitterte die Republik Jemen von 1990 erneut in den Bürgerkrieg, denn ein gemeinsamer Staat war nie realisiert worden. Ali Abdullah Saleh installierte, was Manea den "listigen Staat" nennt, der die tribalen konfessionellen und regionalen Bruchlinien zu be- und ausnutzen weiß, um an der Macht zu bleiben. Zugleich versichern sich die Kerneliten der amerikanischen Unterstützung im "Krieg gegen den Terror" und präsentieren sich als die sicherste Option für den Schutz der wichtigen Meerenge Bab al- Mandab. Den Aufstand der jemenitischen Jugend 2011, über die man gerne mehr erfahren würde, beschreibt Manea kurz.

Im letzten Beitrag analysiert Hamsa Meddeb den prekären Weg Tunesiens zur Demokratie. Er beginnt mit der Anerkennung der Errungenschaften des 'Experiments kollektiver Beratschlagung', wehrt sich aber gegen dessen Verkauf als Erfolgsgeschichte durch den Westen. Denn Probleme gibt es genug. Vor allem das Hauptziel, die soziale Gerechtigkeit, verschwindet immer mehr hinter Korruption. Meddeb meint, die Regierung hätte die großen Summen internationaler fianzieller Unterstützung nicht genützt, um soziale Reformen durchzuführen. Er erzählt über das kooperative Wirtschaftsmodell in der Oase Jemna, welches die Regierung nicht anerkennen will und über die Kämpfe um das Recht auf Arbeit und Entwicklung in den öl- und phosphatreichen Regionen. Der gegenwärtige Kompromiss zwischen den zwei je säkular und religiös orientierten Parteien hemmt den Pluralismus und das Parlament wird dominiert von AnhängerInnen des Neoliberalismus. Der Druck von Außen auf das Land sich in Libyen einzubringen, trägt zur Instabilität bei. Eine Gefahr stellt umgekehrt das Eingreifen regionaler Mächte in die innenpolitischen Verhältnisse dar. Dass zahlreiche Kader aus Ben Alis Zeiten jetzt wieder an den Schalthebeln sitzen, wird von den BejublerInnen der tunesischen Erfolgsgeschichte verschwiegen, während von der islamischen Partei, als sie an der Macht war, ein negatives Bild gezeichnet wurde. Mit welchem Maß wird da gemessen, fragt Meddeb.

Den arabischen Frühling in seiner Umfassendheit darzustellen, sowohl geografisch, historisch, ökonomisch und sozial ist eine Aufgabe, die nur ein Buch nicht leisten kann. Gelungen ist aber in diesem Band ein Querschnitt und Aufriss zugleich. Querschnitt durch die Länder, welche den Frühling maßgeblich ausmachten, Aufriss durch die Betrachtungsweise der vielen Determinanten, welche den Verlauf bis hin zur jetzigen Situation bestimmen. Es sind die Perspektiven, welche das Buch stark macht. Es sprechen ExpertInnen, die aus der Region kommen oder einen wesentlichen Bezug dazu haben. In keinem der Artikel kommt der Blick auf die Situation der Marginalisierten in den jeweiligen Gesellschaften zu kurz. Die Frage nach der Rolle von Frauen in den Revolutionen wird allerdings nur von Maya Mikdashi und Haifa Zagana in das Zentrum der Betrachtung gerückt. Immerhin ist die genderkonforme Schreibweise durch das ganze Buch selbstverständlich.
Mag es an der meta-analytischen Ebene des Buches oder an der Schwierigkeit der Verfügbarkeit liegen, dezitiert islamisch-orientierte Perspektiven auf die Prozesse des Frühlings kommen in diesem Buch nicht vor. Schade, denn auch diese ideologischen(?) Kräfte haben den Arabischen Frühling maßgeblich mitgestaltet.
Inhaltlich gelingt es dieser anspruchsvollen Lektüre dennoch, die herkömmlichen westgerichteten Brillen gehörig zurechtzurücken. Die Kategorien von Tribalismus und Konfessionalismus werden nicht geleugnet, aber als seit der Kolonialzeit gelegte Schienen identifiziert, die für Herrschaftsstrategien aller Art ständig erneuert werden. Die eigentlichen, nämlich sozialen Konflikte, die sich als Forderungen nach Freiheit, Gerechtigkeit und Würde revolutionär artikulierten, wurden damit kanalisiert. So passen sie erneut ins Bild, dass sich der Westen seit jeher von der arabisch-islamischen Welt macht und welches den neoliberalen Interessen seiner ökonomisch-politisch-militärischen Elite entspricht.
Ja, dieses Buch durchkreuzt den hegemonialen Diskurs. Es gibt deutschsprachigen LeserInnen die Möglichkeit, aus dem medial gezimmerten Meinungskäfig auszubrechen und sich selbst kritisch hinsichtlich der eigenen Rolle im weltweiten zeitgenössischen Geschehen zu hinterfragen. Die AutorInnen in "Krise, Revolte und Krieg in der arabischen Welt" öffnen einen Raum, der es solidarisch gesinnten Menschen ermöglicht, an den Erfahrungen des arabischen Frühlings teilzuhaben, daraus zu lernen und für die Zukunft ein gemeinsames Handeln zu entwickeln. Denn auch wir haben die Möglichkeit "Nein" zu sagen, was eine machtvolle Tat sein kann (Adam Hanie). Wer dieses Buch liest, weiß am Ende: Das mindestens müssen wir tun.

Helga Suleiman

Helmut Krieger - Magda Seewald VIDC (Hrsg.)
Krise, Revolte und Krieg in der arabischen Welt
ISBN: 978-3-89691-105-6 178 Seiten
Preis: 20,00 €
Erschienen: 2017
Verlag: Westfälisches Dampfboot



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