Tobias Albrecht in: Neue Politische Literatur

Martin, Susanne. Denken im Widerspruch


Keine Heldengeschichten


Was ist Intellektualität? Noch schwieriger: Was ist nonkonformistische Intellektualität? In ihrer Dissertation „Denken im Widerspruch“ geht Susanne Martin diesen beiden Fragen nach. Gegen aktuelle, vor allem mediale Versuche Intellektualität in Form von Kriterienkatalogen definitorisch festzuschreiben – bei diesen Kriterien handelt es sich dann zumeist um kulturindustriell überformte Charaktereigenschaften bestimmter Personen, die dazu taugen „Heldengeschichten“ (S. 13) zu erzählen (z. B. Tugendhaftigkeit, Standfestigkeit etc.) – versucht Martin Intellektualität „historisch konkret“ (S. 14), das heißt als Theorie und Praxis zu fassen; genauer gesagt geht es ihr um eine spezifische Form von Intellektualität und zwar um nonkonformistische Intellektualität. Diese untersucht die Autorin anhand von drei Einzelfallanalysen: Nacheinander werden die intellektuelle Theorie und Praxis von Theodor W. Adorno, Jean Améry und Günther Anders vorgestellt. Obwohl die Analyse von Intellektualität nach Martin nur historisch konkret gelingen kann, glaubt sie dennoch eine bestimmte Art zu Denken bei allen drei ausfindig zu machen, die sie (dann doch) als eine Art Grundkriterium herausarbeitet: die Denkform der Reflexivität. Das ist nicht unbedingt ein Widerspruch, denn (Selbst-)Reflexivität kann unter sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen seine Gültigkeit behalten.

Konkret geht Martin in ihrer Arbeit, die zwischen (Intellektuellen-)Soziologie, Politischer Theorie und historischer Betrachtung anzusiedeln ist, wie folgt vor: Der Studie werden aktuelle (Selbst-)Verständnisse von Intellektualität (Kap. 1) und zwei als klassisch geltende Bestimmungen von Karl Mannheim und Antonio Gramsci (Kap. 2) vorangestellt. In den beiden Hauptkapiteln des Buches werden dann zuerst die drei ausführlichen Einzelanalysen nacheinander behandelt (Kap. 3). Im Anschluss an Alex Demiroviæs Konzeption des nonkonformistischen Intellektuellen, wird Adorno als eine Art Folie, „als erster und beispielhafter Repräsentant eines Intellektuellentyps vorgestellt, von dem aus die weiteren Einzelanalysen zu entwickeln sind“ (S. 38). Mit Améry und Anders werden anschließend bewusst zwei Beispiele gewählt, die erstens keine akademische Karriere gemacht haben – ja sich mehr (Anders) oder weniger (Améry) offensiv vom akademischen Betrieb distanzierten – und die zweitens wechselseitige Bezüge in Form von inhaltlichen Kongruenzen wie auch von inhaltlichen und persönlichen Konkurrenzen (untereinander und zu Adorno) aufweisen. Die Autorin geht in allen drei Einzelanalysen analog vor: Der persönliche und gesellschaftliche Erfahrungsraum wird skizziert, dessen jeweilige theoretische Verarbeitung vorgestellt, Verständnisse von Praxis und konkretes politisches Engagement werden in den Blickpunkt gerückt. Aus diesen Einzelanalysen erarbeitet Martin schließlich ein systematisches Konzept nonkonformistischer Intellektualität (Kap. 4) als ein „Denken im Widerspruch“ (S. 115). Denken im Widerspruch ist ein Denken, das als „kritische Reflexion von Erfahrung“ (S. 127) beschrieben werden kann. Widersprüchlich ist es, weil – vor dem Hintergrund der Erfahrungen von gescheiterter Revolution sowie Nationalsozialismus und Auschwitz – eine Dialektik der Aufklärung, das heißt eine radikale Kritik der Aufklärung bei gleichzeitiger Rückbesinnung auf ihre Potenziale, zum zentralen Motiv der Theorie wird. Aus dieser Theorie entstehe zudem ein „differenziertes Verhältnis zur Praxis“ (S. 127), das seine eigene Sprecherposition reflektiert und zwischen drinnen und draußen, herrschaftlicher Verstrickung und Distanz, (falschem) Allgemeinen und partikularem Interesse changiert. Auf diese systematische Annäherung folgt ein exkursartiger Teil (Kap. 5), in dem es noch einmal zu zwei konkreten Beispielen zurückgeht und zwei alternative intellektuelle Haltungen – Paul F. Lazarsfelds und Helmut Schelskys – sozusagen als „Gegenprobe“ (S. 136) mit Adorno kontrastiert werden. Abschließend (Kap. 6) stellt Martin das so herauskristallisierte Verständnis von nonkonformistischer Intellektualität nach der Einleitung ein zweites Mal, und nun ausführlicher, in Kontrast zu aktuellen Intellektuellen-Verständnissen. Diese werden in der heutigen medialen Öffentlichkeit zumeist als prominente Persönlichkeiten, als Unterhalter und Unterhalterinnen, (Politik-)Berater und Beraterinnen oder wissenschaftliche Expertenschaft vorgestellt, die sich allerdings nicht mehr durch gesellschaftskritische Arbeit auszeichnen. Die „Denkform der Reflexivität“ (S. 243) befindet sich auf dem Rückzug.

Eine Nachfrage an das gut strukturierte und insgesamt sehr überzeugende Buch könnte sich allenfalls an die Auswahl der Intellektuellen richten. Diese ist einerseits von Demirovics Konzeption nonkonformistischer Intellektualität angeleitet, was sie sehr ,Adorno-lastig‘ macht: Adorno bildet eine Art Archetyp, an dem sich sowohl die beiden anderen Beispiele Améry und Anders als auch die Gegenproben Lazarsfeld und Schelsky messen lassen müssen. Andererseits ist Martins Auswahl auch von zwei für ihr Konzept nonkonformistischer Intellektualität zentralen Erfahrungen geprägt: Erstens der gescheiteren Befreiung des Proletariats sowie zweitens des Nationalsozialismus und Auschwitz. Wenn Intellektualität beziehungsweise die Denkform der Reflexivität aber als Verarbeitung von (hier: sehr spezifischen) Erfahrungen verstanden wird, dann stellt sich die Frage, ob unter aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen – Martin spricht von der „Wissensgesellschaft“ (S. 172) – nonkonformistische Intellektualität überhaupt noch möglich wäre? Es spricht für die Autorin, dass sie diese Frage – wenn auch in abgeschwächter Form – in ihrem Schlusswort selbst andeutet.

Insgesamt liegt ein lesenswertes Buch vor, dem der Verdienst zukommt nicht nur das Konzept von nonkonformistischer, sondern auch das von Intellektualität insgesamt zu schärfen. Ganz nebenbei, das sei zum Abschluss erwähnt, ruft Susanne Martin mit Améry und Anders zwei wichtige Theoretiker des 20. Jahrhunderts in Erinnerung, die in der soziologischen und politiktheoretischen Forschung gänzlich in den Hintergrund abzurutschen drohen.

Neue Politische Literatur, Jg. 60 (2015)



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