Katharina Ludwig in: malmoe

Belina/Michel. Raumproduktionen

Krieg in den Städten, Schlacht der Atlanten. Ein Leseband zur Radical Geograph

Die Raumforschung „boomt“: Graffiti-KünstlerInnen philosophie - ren über das Thema Mauer, JournalistInnen belagern Banlieues und veröffentlichen Karten der Globalisierung. Eine Psychotherapeutin tourt entlang nationaler Grenzen, MigrationsaktivistInnen stellen mindmaps online und SozialwissenschafterInnen entdecken wieder das Spazierengehen im Grätzel. Der UN-Bevölkerungsfonds ruft in seinem jüngsten Bericht „Urbanisierung als Chance“ aus und die Nachricht, dass 2008 zum ersten Mal die Hälfte der Menschheit in Städten leben wird, macht Schlagzeilen. Kurz, nicht nur für GeographInnen ist Zeit, von einem „spatial turn“ zu sprechen.

Lange Zeit war unter dem Schlagwort Globalisierung die Vorstellung grassiert, dass mit gesteigerten Transport- und Kommunikationskanälen der Raum per se überwunden sei; nun mehren sich die unterschiedlichsten Versuche, ihre gesellschaftspolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozesse zu verorten und samt Stadt, Land, Fluss auch räumlich darzustellen. Das Wort urban heißt sowieso schon längt urlässig. Hier beginnt das Problem, auf das der Soziologe Boris Michel und der Geograph Bernd Belina mit dem Buch „Raumproduktionen. Beiträge der Radical Geography. Eine Zwischenbilanz“ antworten wollen: dass Raum zwar mitterweile flächendeckend Thema ist, die Diskussion aber nicht selten Grundlage und Substanz vermisst oder gar nur einer „Ästhetisierung der Geopolitik“ dient. Kartographie für WerbedesignerInnen oder so ähnlich. Demgegenüber wollen die beiden Herausgeber erstmals auf Deutsch theoretische und empirische Schlüsselarbeiten aus dreißig Jahren kritischer Raumforschung zugänglich machen und das Umkämpfte am Raum verdeutlichen.

Humane Karten

Zwei Achsen und drei Namen ziehen sich dabei durch die Beiträge der angloamerikanischen RadikalgeographInnen: wie Raum nicht natürlich, sondern sozial konstruiert ist und zugleich Gesellschaft räumlich organisiert wird; wie Raum dargestellt wird und welche Räume es für Repräsentation gibt; und schließlich immer wieder, was das Erbe von Karl Marx, Henri Lefebvre und Michel Foucault zur Beantwortung dieser Fragen abwirft.

Theoretische Texte von David Harvey, Neil Smith und Doreen Massey, die rund um die geopolitische Wende 1989 entstanden sind, stehen den Ergebnissen empirischer Raumforschung von Cindi Katz, Eugene J. McCann und Don Mitchell eineinhalb Jahrzehnte später gegenüber. Dabei fällt es manchmal schwer, die Orientierung zu bewahren, weil das Buch mehr Reader ist als die versprochene „Zwischenbilanz“. Nicht weniger spannend sind deshalb aber die einzelnen Beiträge vor allem dort, wo sie Raum im Sinn einer „Humangeographie“ als Verbindung und Trennlinie unterschiedlicher sozialer Beziehungen sichtbar machen.

Etwa wenn kritisiert wird, dass in Provatisierungsdebatten eine Illusion vom per se „guten“ öffentlichen Raum bedient wird, die vergeschlechtlicht und rassifiziert ist und zur Aufwertung offizieller Stadtgeschichte beiträgt. Wenn durch Gesetze gegen Schlafen, Sitzen und Urinieren im Freien Obdachlose als Handelnde generell fehl am Platz sind – unter der demokratischen Fehlannahme, Öffentlichkeit sei immer freiwillig. Oder wenn wirtschaftliche Landkarten zurecht gerückt werden, die ArbeiterInnen lediglich als Standortfaktor verzeichnen und nicht als Kräfte, die mit Forderungen und Organisation Raum schaffen.

Bodenlose Schönheit

„Raumproduktionen“ zeigt auch, wie Spuren dieses humanen, alltäglichen Lebens und der sozialen Reproduktion verschwinden: zum Beispiel rund um die „Sanierung“ alter Industriegebäude. Was geschieht, wenn der „schöne Anblick“ als Argument gegen soziale Gruppen dient: Eine „Politik der Ästhetik“ wird über eine „Politik des Überlebens“ gestellt, die unbehaglichen, chaotischen Interaktionen des geballten Raumes unter Kontrolle gebracht und durch nostalgische urbane Landschaften ersetzt.

Aber auch das Widersprechen als räumliche Praxis wird widersprüchlich, wenn sich in der Nachbarschaftsorganisation gegen „Stadtteilaufwertung“ progressive und konservative politische Manöver verknüpfen. Wie auf Protest reagieren, der erfolgreich ist, weil auch der Immobilienmarkt Flaute hat und die Forderung nach Beteiligung gegen „jüdische Investoren“ ausfällt? Die Leistung der Textsammlung von Belina und Michel besteht darin, die Aufmerksamkeit auf diese Widersprüche zu lenken. Intelligenter Lesestoff, der soziale, wirtschaftliche und politische Analysen mit Fragen der Ästhetik verknüpft; und der vielleicht mit dieser Grundlagenarbeit dazu beiträgt, den urbanistischen Schick ein Stück weit auf den Boden zu holen.

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