Belina/Michel. Raumproduktionen
Krieg in den Städten, Schlacht der Atlanten.
Ein Leseband zur Radical Geograph
Die Raumforschung „boomt“:
Graffiti-KünstlerInnen philosophie - ren über das
Thema Mauer, JournalistInnen belagern Banlieues und
veröffentlichen Karten der Globalisierung. Eine
Psychotherapeutin tourt entlang nationaler Grenzen,
MigrationsaktivistInnen stellen mindmaps online und
SozialwissenschafterInnen entdecken wieder das Spazierengehen im
Grätzel. Der UN-Bevölkerungsfonds ruft in seinem
jüngsten Bericht „Urbanisierung als
Chance“ aus und die Nachricht, dass 2008 zum ersten Mal die
Hälfte der Menschheit in Städten leben wird, macht
Schlagzeilen. Kurz, nicht nur für GeographInnen ist Zeit, von
einem „spatial turn“ zu sprechen.
Lange Zeit war unter dem Schlagwort Globalisierung die Vorstellung
grassiert, dass mit gesteigerten Transport- und
Kommunikationskanälen der Raum per se überwunden sei;
nun mehren sich die unterschiedlichsten Versuche, ihre
gesellschaftspolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozesse zu
verorten und samt Stadt, Land, Fluss auch räumlich
darzustellen. Das Wort urban heißt sowieso schon
längt urlässig. Hier beginnt das Problem, auf das der
Soziologe Boris Michel und der Geograph Bernd Belina mit dem Buch
„Raumproduktionen. Beiträge der Radical Geography.
Eine Zwischenbilanz“ antworten wollen: dass Raum zwar
mitterweile flächendeckend Thema ist, die Diskussion aber
nicht selten Grundlage und Substanz vermisst oder gar nur einer
„Ästhetisierung der Geopolitik“ dient.
Kartographie für WerbedesignerInnen oder so ähnlich.
Demgegenüber wollen die beiden Herausgeber erstmals auf
Deutsch theoretische und empirische Schlüsselarbeiten aus
dreißig Jahren kritischer Raumforschung zugänglich
machen und das Umkämpfte am Raum verdeutlichen.
Humane Karten
Zwei Achsen und drei Namen ziehen sich dabei durch die
Beiträge der angloamerikanischen RadikalgeographInnen: wie
Raum nicht natürlich, sondern sozial konstruiert ist und
zugleich Gesellschaft räumlich organisiert wird; wie Raum
dargestellt wird und welche Räume es für
Repräsentation gibt; und schließlich immer wieder,
was das Erbe von Karl Marx, Henri Lefebvre und Michel Foucault zur
Beantwortung dieser Fragen abwirft.
Theoretische Texte von David Harvey, Neil Smith und Doreen Massey, die
rund um die geopolitische Wende 1989 entstanden sind, stehen den
Ergebnissen empirischer Raumforschung von Cindi Katz, Eugene J. McCann
und Don Mitchell eineinhalb Jahrzehnte später
gegenüber. Dabei fällt es manchmal schwer, die
Orientierung zu bewahren, weil das Buch mehr Reader ist als die
versprochene „Zwischenbilanz“. Nicht weniger
spannend sind deshalb aber die einzelnen Beiträge vor allem
dort, wo sie Raum im Sinn einer „Humangeographie“
als Verbindung und Trennlinie unterschiedlicher sozialer Beziehungen
sichtbar machen.
Etwa wenn kritisiert wird, dass in Provatisierungsdebatten eine
Illusion vom per se „guten“ öffentlichen
Raum bedient wird, die vergeschlechtlicht und rassifiziert ist und zur
Aufwertung offizieller Stadtgeschichte beiträgt. Wenn durch
Gesetze gegen Schlafen, Sitzen und Urinieren im Freien Obdachlose als
Handelnde generell fehl am Platz sind – unter der
demokratischen Fehlannahme, Öffentlichkeit sei immer
freiwillig. Oder wenn wirtschaftliche Landkarten zurecht
gerückt werden, die ArbeiterInnen lediglich als Standortfaktor
verzeichnen und nicht als Kräfte, die mit Forderungen und
Organisation Raum schaffen.
Bodenlose Schönheit
„Raumproduktionen“ zeigt auch, wie Spuren dieses
humanen, alltäglichen Lebens und der sozialen Reproduktion
verschwinden: zum Beispiel rund um die „Sanierung“
alter Industriegebäude. Was geschieht, wenn der
„schöne Anblick“ als Argument gegen
soziale Gruppen dient: Eine „Politik der
Ästhetik“ wird über eine „Politik
des Überlebens“ gestellt, die unbehaglichen,
chaotischen Interaktionen des geballten Raumes unter Kontrolle gebracht
und durch nostalgische urbane Landschaften ersetzt.
Aber auch das Widersprechen als räumliche Praxis wird
widersprüchlich, wenn sich in der Nachbarschaftsorganisation
gegen „Stadtteilaufwertung“ progressive und
konservative politische Manöver verknüpfen. Wie auf
Protest reagieren, der erfolgreich ist, weil auch der Immobilienmarkt
Flaute hat und die Forderung nach Beteiligung gegen
„jüdische Investoren“ ausfällt?
Die Leistung der Textsammlung von Belina und Michel besteht darin, die
Aufmerksamkeit auf diese Widersprüche zu lenken. Intelligenter
Lesestoff, der soziale, wirtschaftliche und politische Analysen mit
Fragen der Ästhetik verknüpft; und der vielleicht mit
dieser Grundlagenarbeit dazu beiträgt, den urbanistischen
Schick ein Stück weit auf den Boden zu holen.
malmoe 38
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