Belina/Michel. Raumproduktionen
"Ich fordere Erstsemester oft auf, sich zu überlegen, woher
ihre letzte Mahlzeit kam," schreibt der britische Geograph David Harvey
in seinem Beitrag zu Bernd Belinas und Boris Michels neuem Buch
über 'Raumproduktionen'. "Wenn man alle Bestandteile
zurückverfolgt, die in die Herstellung dieser Mahlzeit
eingegangen sind, zeigt sich, dass sie von einer Vielzahl
gesellschaftlicher Arbeiten abhängen, die an den
unterschiedlichsten Orten und unter verschiedensten gesellschaftlichen
Verhältnissen und Produktionsbedingungen erbracht wurden."
Meisterhaft entwickelt Harvey an einfachen Beispielen seine Kritik an
einem verdinglichten Raumverständnis und plädiert
für einen materialistischen und herrschaftskritischen Zugang
zur sozialen Produktion des gesellschaftlichen Raums.
Bei Harveys Artikel handelt es sich um einen Vortrag, den er 1989 auf
der Jahreskonferenz der 'Association of American Geographers' hielt,
und der ein Jahr später auf Englisch als Zeitschriftenbeitrag
erschien. Mit der Übersetzung für das Buch
'Raumproduktionen', das übrigens den Auftakt für die
gleichnamige Reihe beim Verlag Westfälisches Dampfboot bildet,
liegt der Text nun 17 Jahre später erstmals auch in deutscher
Sprache vor.
Dass Harveys Artikel nicht schon früher auf deutsch erschienen
ist, scheint typisch für diese Debatte. Zwar hat der
sogenannte 'Spatial Turn' - das heißt: die 'Entdeckung' des
Raums für die Auseinandersetzung mit Prozessen der
Globalisierung, Regionalisierung und sozialer Unterschiede - bereits
seit den 1960er Jahren ganze Generationen kritischer
SozialwissenschaftlerInnen in den USA und England beeinflusst. Doch in
den deutschsprachigen Debatten wurde dieser Ansatz lange Zeit kaum
rezipiert.
Nun haben Bernd Belina und Boris Michel in ihrem Buch zehn wichtige
Texte aus der angloamerikanischen Debatte zusammengetragen,
übersetzt und mit einem einführenden Beitrag
versehen. 'Raumproduktionen' ist zwar keine erschöpfende
Übersicht über dieses Forschungsfeld. Doch bietet das
Buch zum ersten mal eine deutschsprachige Zusammenstellung
jüngerer theoretischer und empirischer Arbeiten, die auf
diesem Gebiet bis heute sehr einflussreich sind.
Hilfreich ist gerade für EinsteigerInnen die
Einführung der beiden Herausgeber, in der sie die
raumtheoretischen Debatten historisch und thematisch nachzeichnen und
damit den Einstieg in das Buch sehr erleichtern. Anschließend
gliedert sich 'Raumproduktionen' in einen theoretischen und in einen
empirischen Teil. Neben David Harvey heben Belina und Michel dabei den
Einfluss der französischen Philosophen Henri Lefebvre und
Michel Foucault auf den 'Spatial Turn' hervor.
Allerdings ging es, wie die Herausgeber betonen, weder Harvey, noch
Lefebvre oder Foucault jemals um "den Raum an sich", sondern stets um
seine Rolle für die soziale Praxis. Nicht abstrakte
Theoriebildung, sondern eine problembezogene und Empirie-geleitete
kritische Sozialwissenschaft ist die treibende Kraft hinter dem Spatial
Turn. Auch das wird in 'Raumproduktionen' deutlich. Denn die Auswahl
der Buchbeiträge reicht von der "Privatisierten Stadt" (Cindi
Katz), über "Rasse, Protest und öffentlichen Raum" (
Eugene J. McCann) und "Anti-Obdachlosen-Gesetzgebung in den USA" (Don
Mitchell) bis zu der bereits erwähnten Frage von David Harvey:
Woher kam eigentlich meine letzte Mahlzeit?!
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