Hans Günter Bell in Z

Belina/Michel. Raumproduktionen


Die Klage über die „Raumvergessenheit“ der Sozialwissenschaften zieht sich durch die letzten Jahrzehnte. Zumindest in Deutschland hat dies einen besonderen Grund im Nationalsozialismus, der „das ganze Vokabular aufgesogen oder doch zumindest kontaminiert“ hat. Die Beschäftigung mit dem „Raum“ war daher nach 1945 fast anrüchig; jahrzehntelang galt es häufig als reaktionär, sich mit dem „Raum“ zu beschäftigen. Mittlerweile erleben die Sozialwissenschaften jedoch einen beispiellosen „Spatial Turn“: Dies schlägt sich in einer mittlerweile nicht mehr überschaubaren Flut von Buchveröffentlichungen zu diesem Themengebiet nieder.

Doch die deutsche Debatte leidet unter der nach wie vor unzureichenden Zugänglichkeit zentraler Texte, die seit den 1970er Jahren vorwiegend in Englisch, teils auch in Französisch erschienen, bis heute aber nicht in das Deutsche übersetzt worden sind: Dies gilt gleichermaßen für Henri Lefebvres 1974 erschienenes Buch „La Production de l'Espace“ wie für David Harveys 1973 erschienenes Buch „Social Justice and the City“. Zum Schließen dieser Lücke trägt nach einem von Jörg Dünne und Stephan Günzel 2006 herausgegebenen Band mit Grundlagentexten aus Philosophie und Kulturwissenschaften nun eine weitere Veröffentlichung bei: Bernd Belina und Boris Michel sind Herausgeber einer Zwischenbilanz mit Beiträgen der Radical Geography. Es ist der erste Band der mittlerweile drei Bände umfassenden Reihe „Raumproduktionen“.

In der Einleitung zu ihrer Zwischenbilanz der Radical Geography erläutern Belina und Michel, dass ihr Interesse vor allem der spezifischen Rolle gilt, „die Räumlichkeit in sozialen Prozessen gegebenenfalls spielt (8)“. Für sie zeichnen sich Versuche, „Raum“ in kritisch-materialistischer Theorie zu integrieren, zudem dadurch aus, keine abstrakte Theorie „des Raumes“ formulieren zu wollen; vielmehr werde das Raumkonzept jeweils in Bezug auf die konkrete Problemstellung entwickelt.

Der Sammelband bietet im ersten Teil („Raumtheorie“) eine Auswahl stärker theoretisch orientierter Beiträge: So etwa David Harveys Auseinandersetzung mit der Konstruktion einer historischen Geographie von Raum und Zeit (1990); ein Kapitel aus Neil Smiths Buch „Uneven Delelopment. Nature, Capital and the Production of Space“ (1984); ein Kapitel aus Edward Sojas Buch „Postmodern Geographies“ (1989) und Doreen Masseys Aufsatz „Politik und Raum/Zeit“ (1992).

Der zweite Teil („Raumforschung“) präsentiert konkrete Raumproduktionen und stärker empirische Untersuchungen: unter anderem über Soziale Reproduktion in der privatisierten Stadt (Cindi Katz, 2001), Klassenkämpfe in Baltimore (Andy Merrifeld, 2002) oder Ursachen und Folgen der Anti-Obdachlosen-Gesetzgebung in den USA (Don Mitchel, 1997).

Gegenstand der Dissertation Uwe Kröchers - zweiter Band der Reihe Raumproduktionen - ist die Frage, ob die Region für ökonomische und gesellschaftliche Zusammenhänge in der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung an Bedeutung gewinnt, wie von neueren regionalwissenschaftlichenn Ansätzen behauptet.[1]

Als Ergebnis seiner Rekonstruktion verschiedener neuerer regionalwissenschaftlicher Ansätze und ihrer theoretischen und empirischen Kritik, stellt er fest: „Aus den theoretischen und empirischen Überlegungen lässt sich [...] kein genereller Bedeutungsgewinn räumlicher Nähe ableiten, bei dem kleinräumige Produktionsbeziehungen eine Renaissance erfahren.“ (281)

Obwohl die Arbeiten des new regionalism „hauptsächlich in einem progressiv geformten Wissenschaftsmilieu entstanden [sind]“ (282), sind sie dennoch anschlussfähig an neoliberale Konzepte und „fungieren [...] als Steigbügelhalter bei der neoliberalen Wettbewerbsformierung“. (283)

Als dominante Tendenzen für die aktuelle Raumordnungspolitik stellt Kröcher fest, dass die Zunahme „weicher“ Steuerungsinstrumente nicht zum erhofften Machtgewinn der lokalen oder regionalen Ebene führt, sondern der Durchsetzung des neoliberalen Programms von mehr Wettbewerb und Privatisierung dient. Statt auf eine überregional ausgleichende Steuerpolitik wird zunehmend auf den marktwirtschaftlichen Wettbewerb zwischen den Regionen gesetzt.

In diesen Rahmen eingebettet dient die partielle Regionalisierung von Staatlichkeit vor allem „der Durchsetzung marktlicher Steuerungsmöglichkeiten und einer besseren Privatisierung bisher öffentlich organisierter Aufgabenbereiche“. (295)

In der angloamerikanischen Radical Geography wird seit einiger Zeit über die räumlich-maßstäbliche Dimension sozialer Konflikte diskutiert. „Es geht darum,“ - so die Herausgeber des Sammelbandes über Politics of Scale[2] in ihrem Vorwort - „wie Akteure durch skalare Strategien, d.h. durch die Produktion und Veränderung räumlicher Maßstabsebenen Machtverhältnisse zu festigen, zu verschieben oder zu bekämpfen versuchen.“ (7)

Um diese Debatte im deutschen Sprachraum bekannt zu machen, werden im dritten Band der Reihe Vorträge einer Konferenz in Toronto und eines Workshops in Wertpfuhl bei Berlin dokumentiert.

Aufschlussreich ist die Einleitung von Markus Wissen (Zur räumlichen Dimensionierung sozialer Prozesse), der betont, „dass es sich bei der Schaffung, Abschaffung oder relativen Aufwertung von Maßstabsebenen nicht einfach um räumliche Konflikte, sondern um eine räumliche Dimension sozialer Konflikte handelt“, mit „skalarer Dimension“, also die räumliche Maßstäblichkeit sozialer Prozesse gemeint ist. Zentral auch die Einschätzung, dass solche Prozesse „keineswegs neutrale, sondern zutiefst herrschaftsförmige Prozesse [sind].“ (9) Zum Verständnis der Scale-Debatte sei es daher wichtig, sich die Umkämpftheit und Veränderlichkeit von räumlichen Maßstabsebenen bewusst zu machen.

Der Sammelband bietet Raum, um die Annahmen, Kategorien und Ergebnisse der Scale-Debatte kritisch zu überprüfen und weiterzuentwickeln: zunächst aus einer raumtheoretischen Perspektive (mit Beiträgen von Rianne Mahon/Roger Keil, Neil Brenner u.a.); dann indem die Scale-Debatte in Beziehung zu solchen Ansätzen gesetzt wird, die in den deutschsprachigen kritischen Sozialwissenschaften stärker diskutiert werden, also beispielsweise mit dem Poststrukturalismus (Henning Füller/Boris Michel), der Gramscianischen Hegemonietheorie (Ulrich Brand) oder der Regulationstheorie (Christoph Scheuplein). Die empirische Fruchtbarkeit des Scale-Konzeptes wird am Beispiel der Stadt- und Umweltforschung (Matthias Bernt/Christoph Görg) oder der Debatte über die Europäische Union (Susanne Heeg) überprüft. Und schließlich geht es etwa in den Beiträgen von Margit Mayer zu multiskalaren Praxen städtischer sozialer Bewegungen und von Bernd Röttger zur Revitalisierung der Gewerkschaften um die Frage, „inwieweit sich mit dem Scale-Konzept emanzipatorische politische Praktiken besser verstehen lassen und inwieweit das Konzept selbst solche Praktiken befruchten kann“. (25)

Diese kurze Übersicht verdeutlicht, dass die drei Herausgeber Bernd Belina, Boris Michel und Markus Wissen und der Verlag Westfälisches Dampfboot mit den ersten drei Bänden der Reihe Raumproduktionen tatsächlich das angekündigte Forum für kritische Raumforschung bieten. Mit dieser neuen Veröffentlichungsmöglichkeit für die kritisch-materialistischer Raumforschung verbindet sich die Hoffnung auf eine Intensivierung der sozial- und raum-wissenschaftlichen Debatte im deutschen Sprachraum.

[1] Zu diesen Ansätzen zählt Kröcher u.a. Arbeiten über die räumlichen Ballungen von gleichartigen Unternehmen vor allem im „Dritten Italien“, das Konzept regionaler Produktionscluster oder dem „global city“-Ansatz.

[2] Für den Begriff Scale lässt sich im Deutschen nur schwer eine adäquate Übersetzung finden. Er bezeichnet sowohl die einzelne räumliche Maßstabsebene als auch das Verhältnis verschiedener Maßstabsebenen zueinander. In dem besprochenen Band wird deshalb die englische Bezeichnung Scale in vielen Fällen beibehalten.

Z.Zeitschrift für Marxistische Erneuerung

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