Rezension zu Bourdieu: Schwierige Interdisziplinarität

Schwierige Interdisziplinarität - Was die Kunstwissenschaft von Bourdieu lernen kann

Zwei Jahre nach dem Tod des weit über die Grenzen seiner Fachdisziplin hinaus rezipierten und Einfluss ausübenden französischen Soziologen, ist 2004 in deutschsprachiger Erstausgabe ein Band erschienen, der eine Reihe von formal und inhaltlich sehr unterschiedlichen, zwischen 1985 und 2000 entstandenen Texten – verschriftlichte Debatten, Tagungsgespräche, überarbeitete Transkriptionen von Vorlesungen und Seminarbeiträgen – „zum Verhältnis von Soziologie und Geschichtswissenschaft“ versammelt. Für jene, die hier zum ersten Mal mit Bourdieu in Berührung kommen, bietet der von Elke Ohnacker und Franz Schultheis herausgegebene Band weniger einen Einstieg in das komplexe Theoriegebäude Bourdieus (welches ohnehin besser als methodisches System der Befragung und nicht als „theoretizistische“ Großtheorie zu verstehen ist) , denn grundlegende Einsichten in das Bourdieusche Programm epistemologischer Reflexivität und ihres Nutzens für andere Disziplinen.

LeserInnen, die auf das Zeitgemäße des Titels anspringen und sich eine einfache Handlungsanleitung zum interdisziplinären Arbeiten erwarten, werden jedenfalls nicht auf ihre Rechnung kommen. Auch jene nicht, die an einer Darstellung der Interdisziplinarität am Beispiel des Verhältnisses von Soziologie und Geschichtswissenschaft interessiert sind. Im Gegenzug werden diejenigen fündig werden, die die von Bourdieu ausgesteckten Warntafeln und Einladungen mit Gewinn für ihre eigene Forschungspraxis zu deuten und zu verarbeiten wissen, und die einen gewissen Abstand zur eigenen Disziplin und eine Bereitschaft zum Überdenken der eigenen Denkwerkzeuge mitbringen. Jedenfalls geht es nicht einfach nur um die (aus der Kritik an unverbundenen Parallelwelten des ausdifferenzierten modernen Wissenschaftsbetriebes heraus formulierte) Forderung nach Interdisziplinarität, sondern vielmehr um die gemeinsame Arbeit und dauerhafte Anstrengung der Reflexivität als einer notwendigen Voraussetzung für eine bewusste (und eben auch kollektive) wissenschaftliche Praxis.

Bourdieu liefert nun in dem vorliegenden Band nicht nur Anregungsmaterial für umfassende sozialgeschichtliche Forschungsprogramme – wie etwa im ersten Kapitel („Historische Soziologie“), wo nach einem kurzen, die Problematik der Rezeption bzw. den rezeptionsfeldspezifischen „Gebrauch“ eines Autors in Rechnung stellenden Kommentar zu Weber, ein Modell für die Genese des modernen Staates vorgeschlagen wird, in dem die Bourdieu-typische (d.h. auf seinen relationalen Schlüsselkonzepten – Habitus, Feld, Kapital – aufruhende) Forschungsmethodik sichtbar wird. In den im zweiten Kapitel („Historiker und Soziologen“) zusammengefassten Gesprächen mit Historikern, sowie in der anlässlich der Verleihung der Huxley Memorial Medal im Dezember 2000 gehaltenen Rede über „Teilnehmende Objektivierung“, die das dritte Kapitel („Interdisziplinarität“) bildet, erinnert Bourdieu vor allem an die Instrumente einer selbstreflexiven soziologischen Analyse, mit deren Hilfe der Bezug zur wissenschaftlichen Praxis und zu den Forschungsinstrumenten verändert werden soll. Diese im Rahmen seiner langjährigen Forschungstätigkeit (v.a. in seiner Soziologie der Intellektuellen und des wissenschaftlichen Feldes) entfalteten analytischen Werkzeuge, die beinah alle Beiträge durchziehen, sollen nun, zumal ihr Nutzen für die Kunstgeschichte nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, ansatzweise skizziert werden.

Selbstobjektivierung. In einem Gespräch Bourdieus mit dem französischen Historiker Roger Chartier (S. 74) wird deutlich, dass HistorikerInnen eher wenig dazu disponiert sind, ihre eigenen Praktiken zu reflektieren. Die feministische Theorie und Teile der Cultural Studies mögen zwar ihre Spuren in der Kunstgeschichte hinterlassen und Kritik an hegemonialen Ordnungen zum Ausdruck gebracht haben, doch entzieht sich die traditionelle, vor allem autorbezogene (Kunst)Geschichtsschreibung tendenziell einer epistemologischen Selbstreflexion. Im positiven wie im negativen Sinn existiert so etwas wie ein „Schutz des historischen Milieus“. Vor allem die Vielfalt der Forschungsthemen erlaubt es, gemütlich, d.h. relativ konfliktfrei in einer kaum vereinheitlichten und zugleich doch „integrierten“ Welt zu koexistieren. Die Logik universitärer Reproduktion, aber auch die Behandlung exklusiver (als Kunst anerkannter) Kulturprodukte und die damit verbundenen Erwartungen eines breiteren Publikums (das nationale Erbe, die großen Ereignisse, Institutionen und Männer zu feiern) bringt es mit sich, dass bestimmte Fragen erst gar nicht gestellt werden, dass präkonstruierte Gegenstände als gegeben hingenommen werden, Klassifikations- und Ordnungssysteme reproduziert werden, ohne dass dabei deren Genese und hierarchisierende Effekte mitbedacht werden.

Um nun der Kontamination der Begriffe durch Vorbegriffe („Es ist anachronistisch, zu behaupten, Michelangelo sei ein Künstler gewesen.“ S. 83) vorzubeugen und disziplinären Selbstbeschränkungen entgegenzuarbeiten, empfiehlt Bourdieu dem wissenschaftlichen Subjekt, sich selbst zu objektivieren. Damit meint er nicht nur die zu erstrebende Einsicht, dass in die Wissenschafts(re)produktion eine Menge nicht analysierter Dinge eingehen (Ressentiment, Neid, Begierden, Utilisierung von Autoren, um „theoretische Effekte“ zu erzielen etc.), sondern auch, dass Machtstrukturen in der Organisation des Feldes, der hierarchisch gegliederten Wissensordnung und der sprachlichen Kommunikation wirksam sind, dass in den verdeckten Grundlagen jeder intellektuellen Arbeit beständig auch die Gefahren des Ethnozentrismus lauern. Ziel einer von (Selbst)Gefälligkeit befreiten Objektivierung wäre also der/die aufgeklärt-emanzipierte WissenschafterIn, der/die in der Lage ist, sich als Teil „eines nationalen wissenschaftlichen Feldes, eines Gefüges von Traditionen, Denkmustern, Fragestellungen und geteilten Überzeugungen“ zu begreifen (S. 176), sich aber auch das historische bzw. akademische „Unbewusste“, das in die eigne Disziplin eingegangen ist, zu enthüllen – die in habituellen Strukturen verankerten kognitiven Schemata und erworbenen Dispositionen, die dazu führen, dass so vieles als selbstverständlich begriffen wird, was es eigentlich nicht ist, „etwa das, was zu einem gegebenen Zeitpunkt als der Diskussion würdig oder unwürdig, als wichtig oder interessant erscheint“ (S.177).

Doppelte Historisierung. Um nicht in Anachronismen und Vorbegriffen stecken zu bleiben, um die Projektion von Begriffen, die in den jeweils behandelten Realitäten gar nicht existieren, zu vermeiden, insgesamt dem Problem Ahistorisierung (das, wie Bourdieu in Die Regeln der Kunst (1999/1992) ausführlich zeigt, gerade bei er Behandlung kanonisierter Produkte so offensichtlich wird) entgegenzutreten, wird als Forschungsprogramm wie als Instrument der Selbstobjektivierung die Methode der doppelten Historisierung vorgeschlagen. Damit ist – dem Diktum folgend, dass Verstehen, das der Geschichte nicht ganz zum Opfer fallen will, sich als geschichtlich bedingt erkennen muss – einerseits die „Historisierung des Subjekts der Geschichtsforschung, d.h. seiner Konzepte und Klassifikationsschemata“ (S. 115) gemeint, andererseits aber auch die Historisierung der zu interpretierenden historischen Dokumente, die zunächst hinsichtlich ihres Produktionsraums und der darin eingegangenen Wahrnehmungskategorien und sodann hinsichtlich des Raumes ihrer Besprechung (mithilfe der Diskursanalyse, Begriffs- oder Rezeptionsgeschichte) zu rekonstruieren sind. Was nun die Historisierung des kulturproduzierenden und über Kulturprodukte forschenden Subjekts betrifft, so wäre diese mit der Erforschung der Genese des jeweiligen Raums (in dem ein Schriftsteller, Künstler, Architekt oder Wissenschafter existieren kann) – also mit einer (Wissenschafts)Geschichte der Kunstgeschichte bzw. mit einer Rekonstruktion der Genese der verschiedenen (relativ autonomen) Felder der Kulturproduktion (wie dies etwa Martin Warnke mit seiner Soziogenese des vormodernen Künstlers getan hat) – zu verknüpfen. Man riskiert jedenfalls „gewaltige historische Irrtümer“, so Bourdieu, wenn man darauf verzichtet, nach der Genese des jeweiligen Feldes und der Begriffe zu fragen, die nicht selten behandelt werden, als wären sie von geschichtsübergreifender Natur. (S. 83)

Falsche Gegensätze. Als einer, der es sich Zeit seines Lebens zur Aufgabe gemacht hat, die in der eigenen Zunft zum Tragen kommenden durch Konkurrenz bedingten Abgrenzungsmechanismen und intellektuellen Spiele aufzudecken und zu kontrollieren, verweist Bourdieu an mehreren Stellen auf den Umstand, dass jedes wissenschaftliche Universum auch sozialen Gesetzen unterworfen ist, und wissenschaftliche Wortmeldungen immer auch Einsätze in sozialen Kämpfen sind. Nicht nur die Verführungen des Ruhms und des schnellen Erfolgs verleiten (v.a. die Neuankömmlinge) zur Veranstaltung von Revolutionen, die nicht selten auf „wissenschaftlichen Scheinproblemen“ und „künstlichen Gegensätzen“ gründen. Oft sind es auch tradierte einfache Unterscheidungen und Dichotomien – wie sie etwa mit dem von Bourdieu als „falsch“ bezeichneten Widerspruch von Strukturalismus und Phänomenologie, Individuum und Gesellschaft, Objektivismus und Subjektivismus gegeben sind –, die künstliche theoretische Brüche nach sich ziehen. Ebenso stellt der Umstand, dass mit verschiedenen Fachtraditionen oder Schulen verbundene unterschiedliche Begriffe, die zwar oft das Gleiche meinen, aber aufgrund von Voreingenommenheiten oder, weil die Verständnisbedingungen für entfernte oder andere Denkweisen nicht vorhanden sind, nicht zusammengedacht werden können, ein objektives Hindernis für eine Vereinheitlichung des Wissenschaftsfeldes dar.

Für den aufmerksamen Leser/ die aufmerksame Leserin dürfte nach der Lektüre jedenfalls klar geworden sein, dass weniger das ostentative Bekenntnis zu Inter- und Transdisziplinarität und die theoretische Begründung von ebensolchen Arbeitsmethoden für wissenschaftlichen Fortschritt und die Reduktion von disziplinären (und auch nationalen) Schließungen und Ausschließungen sorgen wird, denn ein professionelles reflexives Dispositiv, dem ein Bewusstsein um die sozialen und mentalen Hindernisse und um die Barrieren zu eigen ist, die das disziplinäre und nationale Unbewusste zwischen WissenschafterInnen aufbauen kann. Für den Erwerb dieses Dispositivs müsste allerdings der Umweg über die Soziologie, die Vertiefung in Standardwerke Bourdieus in Kauf genommen werden.