Lars Bretthauer in: Das Argument

Gerstenberger, Heide. Die subjektlose Gewalt

Gerstenberger, Heide, Die subjektlose Gewalt. Theorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt, 2. Aufl., 2006.
In: Das Argument 271/2007, S.: 466f.

Zentrales Anliegen dieses Buches ist die Erklärung bürgerlicher Revolutionen aus den historischen Bedingungen der Herrschaftsstrukturen des Ancien Regime. Laut Verf. Stellte die Herrschaftsform dieser Periode eine besondere Konstellation zwischen Feudalismus und bürgerlichen Staaten dar. Waren die feudalen Verhältnisse durch personale Herrschaft und Aneignung bestimmt, so wurde nach Schaffung privilegierter Adelsstände im Übergang zum Ancien Regime Herrschaft durch Marktstrukturen und Recht vermittelt. Der Adel war von der Gewalt der Krone abhängig, die Privilegien verlieh, während die Krone zugleich vom Adel abhängig war, da ihre Herrschaft auf der lokalen Praxis des Adels fußte.
Gerstenberger versteht bürgerliche Revolutionen als Phasen im Strukturwandel zum bürgerlichen Staat. Diese Phasen bestimmt sie nicht anhand der Träger oder politischen Form der Revolutionen, sondern anhand der " strukturellen Voraussetzungen für die unterschiedlichen Ausprägungen der bürgerlichen Revolution" (456). Dazu zählt sie vor allem die Herrschaftskrisen des Ancien Regime, die zum einen aus mangelnder Integrationsfähigkeit gegenüber aufstrebenden sozialen Kräften, zum anderen aus der unter den "Herren" verschärften Konkurrenz um Herrschaftspositionen resultierten. In dieser Situation wurde " aus personaler Herrschaft" "öffentliche - subjektlose - Gewalt" (517). - Wie eindrucksvoll am historischen Material gezeigt wird, revoltierten die bestehende adelige Öffentlichkeit und das während des Anien Regime eingesetzte Parlament in England gegen die Krone. Die frühzeitige Abschaffung königlicher Privilegienvergabe und das Öffentlich-Werden staatlicher Gewalt ermöglichten außerdem, dass die spätere Transformation der Monarchie in ein nationale Einheit stiftendes Symbol im "öffentlichen Interesse" stattfand. Demgegenüber fanden sich in Frankreich kaum Öffentlichkeitsstrukturen - nicht zuletzt darum, weil sich der französische Adel als Kreditgeber der Krone eine gewisse Autonomie bewahr hatte. Die Kritik am Ancien Regime in Frankreich richtete sich in der Folge direkt gegen die Krone und führte zur Infragestellung nicht nur einzelner Privilegien, sondern der politischen Herrschaft insgesamt und insbesondere der des Adels. Die verschiedenartige Genese einer von der Ökonomie getrennten Sphäre politischer Öffentlichkeit, die Verf. als Bewegungsform bürgerlicher Gesellschaften versteht, führte zu unterschiedlichen Ausprägungen des Strukturwandels derselben. Während sich der bürgerliche Staat in England als Erweiterung bestehender Öffentlichkeitsstrukturen etablierte, mussten diese in Frankreich erst erkämpft werden - gegen die Attacken der früher bürgerlich gewordenen Gewaltapparate aus Polizei und Armenpflege.
Bemerkenswerterweise bietet Gerstenberger zwei unterschiedliche Zugänge zu ihrem Buch an, einen der Kapitelfolge entsprechenden historiographisch orientierten und einen theorieorientierten Zugriff, der das historische Material ausgehend vom theoretisch argumentierenden Schlusskapitel aufschließt. Jede der beiden Lesarten steht für eine kritische Intervention. Einerseits wendet Verf. sich theoretisch gegen eine Geschichtsschreibung, die die Entstehung bürgerlicher Staatlichkeit aus Einzelphänomenen und ohne kohärente materialistische Gesellschaftstheorie zu erklären sucht. Andererseits kritisiert sie aus historiographischer Perspektive funktionalistische Ansätze marxistischer Geschichtsschreibung, die bürgerliche Revolutionen auf ökonomische Strukturfordernisse zurückführen. Diese vernachlässigten die Komplexität und den "historischen Eigensinn" feudaler oder absolutistischer Gesellschaften und projizierten bürgerliche Verhältnisse - etwa die Trennung von Staat und Ökonomie oder moderne Klassenverhältnisse - auf vorbürgerliche zustände personaler Herrschaft. Der Beitrag der Arbeit zur Klassenanalyse besteht darin, dass sie am historischen Material zeigt, dass vor den bürgerlichen Revolutionen nicht von kapitalistischen Klassenverhältnissen gesprochen werden kann, da Ökonomie und Politik noch nicht getrennt waren. Der Einfluss sozialer Gruppen in bürgerlichen Revolutionen müsse anhand ihrer materiellen Positionen und gemeinsam artikulierten politischen Interessen untersucht werden. Kollektives Handelns könne nicht klassen- oder staatstheoretisch vorausgesetzt werden. Vielmehr bedürfe es des "Nachweises einer tatsächlichen Verallgemeinerung materieller Reproduktionsbedingungen sowie (...) von Öffentlichkeitsstrukturen", "in denen die gegenseitige Versicherung übereinstimmender (klassenmäßiger, ständischer, religiöser und anderer) oppositioneller Interessen überhaupt erst erfolgen konnte" (25). Diese Neuauflage basiert bis auf wenige Überarbeitungen des Theorieteils auf dem bereits 1990 veröffentlichten Opus Magnum Gerstenbergers. Deren Auffassung marxistischer Geschichtsschreibung bedingt eine für Nichthistoriker nicht leicht zugängliche Darstellung der bürgerlichen Revolutionen in England und Frankreich. Im Spannungsfeld zwischen der Eigendynamik vergangener Gesellschaftsformationen und ihrer Untersuchung vom Standpunkt entwickelter bürgerlicher Staatsgewalt entscheidet sie sich im Zweifel für den "Eigensinn" der jeweiligen Epochen. So kommt zwar an bestimmten Punkten die orientierte Führung der Lektüre zu kurz, aber als Verzicht auf Teleologuie ist diese Strategie gut begründet.

Lars Bretthauer (Berlin)

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