Rezension zu Hoss: "Komm ins Offene, Freund ..."

Politisch und glücklich

Willi Hoss Autobiografie liest sich wie ein spannender Bildungsroman - und erzählt eine etwas andere Geschichte der Bundesrepublik

Vier Leben in einem hat Willi Hoss gelebt. Erst Landarbeiter, Sohn armer Leute vom Niederrhein, Schweißer, mehr als 20 Jahre kommunistischer Aktivist. Dann der Bruch mit der Partei, Herausforderer der Gewerkschaftsoligarchen bei Daimler und Mitbegründer der bundesweit erfolgreichsten basisdemokratischen Gewerkschaftsopposition, der "Plakatgruppe". Später, an der Wiege der Grünen, deren Bundestagsabgeordneter, zeitweilig ihr Sprecher. Schließlich der Bruch auch mit den Grünen, der Weg zu den Indianern am Amazonas, Gelder sammelnd, unermüdlich Projekte initiierend, als Häuptling geehrt. ein bewusster Arbeiter, aber kein "Sohn seiner Klasse", nicht eingesperrt in der Rolle des Arbeiterführers, in der ihn so mancher radikale Linke gern gesehen hätte. ein eigener Kopf, wissens- und lebenshungrig sein Leben lang, nicht manipulierbar.

Peter Kammerer, seinem in Italien lehrenden freund, ist es zu danken, dass er in langen, vom Landwein aus den Marken inspirierten Gesprächen diese vier Leben aufgezeichnet hat. Herausgekommen ist ein überaus spannendes Buch, dessen Authentizität durch keinerlei nachträgliche Girlanden beeinträchtigt wird. Ein Bildungsroman mit kontinuierlicher Entwicklung trotz aller Umbrüche. So etwas zu lesen, ist ein seltenes Vergnügen.

In seinem frühen Engagement erfährt Hoss die Schikanen und Verfolgungen, denen Kommunisten im Kalten Krieg eben ausgesetzt waren. Eine lehrreiche Lektüre für die Vielen, die die Adenauer-Republik heute im milden demokratischen Abendlicht sehen. Hoss schildert Alltagssituationen, genau, ohne Selbstmitleid. Die Entfremdung von "seiner" Partei entwickelte sich parallel zu seiner Betriebsarbeit bei Daimler. Ihm wurde klar, dass die KPD niemals den Konflikt mit den Betriebsratsfürsten bei Daimler und dem Apparat der IG Metall riskieren würde. Neue Freundschaften mit den Stuttgarter Aktivisten der außerparlamentarischen Opposition, mit Künstlern und Schriftstellern weiteten seinen politischen Horizont die geschlossenen Welt von Parteilinie und Unterordnung zerbrach, die Niederschlagung der "Prager Frühling" setzte den Schlusspunkt.

Später begegnen wir Hoss, dem Kämpfer wider die Selbstherrlichkeit der Daimler-Manager und die ebenso willfährige wie korrupte Betriebsratsmafia. Wie erklärt sich der phänomenale Erfolg seiner Plakatgruppe? Hoss stellt systematisch betriebliche Öffentlichkeit her, bezieht die Kollegen mit ein in Beratung, Beschlüsse und Aktionen. Er, der allseits geachtete Facharbeiter, kümmert sich auch um die fast durchweg ausländischen Bandarbeiter, er versteht es, dort Freunde zu gewinnen, verlorenes Selbstbewusstsein wieder zu wecken.

Die Forderung der Plakatgruppe sind auf die Arbeitssituation der Kollegen bezogen, nehmen deren Beschwernisse auf. Aber die Gruppe thematisiert auch das Schicksal der Daimler-Arbeiter, die in südafrika oder Brasilien einen ungleich schwereren Kampf führen müssen. Mit milden Spott bedenkt Hoss die Versuche der Maoisten, auf "seine" Gruppe Einfluss zu gewinnen (der Rezensent weiß, wovon er spricht).

Hoss versteht es, die Intellektuellen der APO für seinen Kampf zu gewinnen, sie leisten nützliche Arbeit als Experten und Propagandisten. Aber er wird nie zu ihrem Vorzeige-Proleten. Er lehrt die Klassenwirklichkeit und er lernt. Vor allem aber lernt er, der im Stolz für die Daimler-Produkte groß geworden ist, die Gefahren kennen, die der Umwelt durch die industrielle Großproduktion entstehen. So kommt er zur Ökologie.

Hoss war nie ein "Fundi", er ging für die Grünen gerne ins Parlament, leistete im Sozialausschuss gediegene Arbeit, ohne Angst vor "Feindberührung". Dann erlebte er die voraussehbaren Enttäuschungen angesichts der macht- und Karrieregeilheit seiner neuen Gesinnungsgenossen. Sein Urteil über die Entwicklung der Grünen ist vernichtend, scheint jedoch allzu sehr auf die damaligen Konflikte orientiert. Man spürt das Nachbeben des Zorns, wo man sich eine kritische und selbstkritische Reflexion über Möglichkeiten und Grenzen der grünen Realpolitik gewünscht hätte. "Korrumpierung war noch nie eine ausreichende Erklärung."

Mit Anfang 60 stürzte Hoss sich in sein letztes großes, sein Brasilien-Abenteuer. Bei den Indianern des Amazonas kommt er nicht als reicher Onkel daher, er legt bei den praktischen Projekten selbst Hand an, redet nicht abstrakt von "Hilfe zur Selbsthilfe", sondern leistet Ausbildungsarbeit, kritisiert, ermuntert. Dass er Daimler dazu gebracht hat, in den Nobelkarossen indianische Naturprodukte zu verarbeiten, ist Hoss vielfach angekreidet worden, lässt ihn aber kalt. Schön wäre es gewesen, wenn kammerer den Freund dazu gebracht hätte, in den Gesprächen seinen "Abschied vom Proletariat" kritisch zu überdenken. Immerhin war Hoss am Ende seines Lebens Anhänger von Attac.

Ein durchweg politisches Leben und ein glückliches dazu. Vielleicht ein wenig zu geradlinig erzählt, aber alles in allem trifft die Zeile in Hölderlins Gedicht "Komm in Offene, Freund" zu, die der Autobiografie den titel gab: "Wir, so gut es gelang, haben das Unsere getan".

von Christian Semler in: taz vom 10.7.2004