Zusammen denken, was zusammen gehört ZUM 65. GEBURTSTAG VON ELMAR ALTVATER

Theoretiker der archimedischen Punkte des Kapitals und Nestor der Globalisierungskritik

Am Abend vor seinem 65. Geburtstag wird er aus Brasilien zurückkommen, von einer Tagung mit Immanuel Wallerstein, Samir Amin und André Gunder Frank, mit ökonomischen Universalisten, die - jeder auf seine Weise - das Kapital von Karl Marx um einen vierten Band ergänzt haben: die "Politische Ökonomie des Weltmarktes". An Deutschlands Universitäten ist Elmar Altvater, der nun die vorgeschriebene Altersgrenze erreicht hat, der letzte Politische Ökonom marxistischer Provenienz. Ein melancholischer Geburtstag? Auf jeden Fall geht ein theoretischer Zyklus zu Ende. Ein Zyklus, der begann, als die Assistentengeneration von 1968 das Marxsche Werk entdeckte und mit - man ist versucht zu sagen, deutscher - Gründlichkeit den Historischen Materialismus von seinen stalinistischen Verballhornungen befreite und sein Kernstück, die Kritik der politischen Ökonomie, "rekonstruierte". Kein Modell zur adhoc-Erklärung von Krisen, sondern eine wirkliche Theorie von dem, was die Moderne im Innersten bewegt: von der elementaren Verdoppelung der Produktion in Gebrauchswert und Tauschwert, Ware und Geld, Produktion und Zirkulation bis hin zur konfliktreich gegliederten Totalität der Weltgesellschaft.

Es ist ein konsequenter Gelehrtenweg, den Elmar Altvater, der in München studierte, in Erlangen Assistent war, und seit l970 am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin lehrt, in 40 Jahren gegangen ist: von den Kapitalkursen, den semesterlangen Debatten über produktive und unproduktive Arbeit, in denen das revolutionäre Subjekt allmählich verloren ging, der Kritik an der Sozialstaatsillusion der Sozialdemokraten, deren Tod wir heute erleben, über die Theorien des Finanzkapitals, der Schuldenkrisen und ökologischen Katastrophen der Dritten Welt - in langen Forschungssemestern in Brasilien und Mexiko hat er sie studiert - bis hin zur Analyse und Kritik der weltergreifenden "globalen Konterrevolution des Neoliberalismus", der politischen Machtergreifung des "Clubs der Geldeigentümer", die sich im "Washington Konsensus" ihre Verfassung gegeben haben und deren Exekutivorgane der IWF und die WTO sind.

Zusammenzudenken, was zusammen gehört, hat sich Elmar Altvater als Aufgabe gesetzt: nicht nur die entgrenzte kapitalistische Akkumulationsdynamik, die beschleunigte Kolonisierung von Lebenswelten und die Industrialisierung der Bewusstseins- und Informationsströme, sondern auch die Erschöpfung der fossilen Energien, die Naturzerstörung und schließlich der Abbau politischer Souveränitäten, die "Entmaterialisierung der Demokratie". In seinem - mit seiner Lebensgefährtin Birgit Mahnkopf geschriebenen - großen Wurf über die Grenzen der Globalisierung (1996) schießt all das in einem Lehrbuch zusammen, das, wenn es mit rechten, also linken Dingen zuginge, an allen Fakultäten der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Pflichtlektüre sein sollte, weil es die Quartalsprognosen der "drittmittelfinanzierten Betriebsnudeln" und die wahlkampfgebundenen Konjunkturbeschwörungen der entkernten Politik dekonstruiert. Zugleich wird die Notwendigkeit erklärt, mit der in unserer Epoche "Reichtum und Armut wie siamesische Zwillinge" gemeinsam und untrennbar immer größer werden, mit der das Kapital sich Raum und Zeit, Gehirne und Natur subsumiert - bis der "fossilistische Fordismus", der in immer schnelleren Rhythmen die "Bestände der mineralistischen Biomasse verzehrt, die sich in Hunderten von Millionen Jahren gebildet haben", an die Naturschranke stößt. Der Kapitalismus kann viel, die Gesetze der Natur kann er nicht umstoßen.

Der Folgeband Globalisierung der Unsicherheit (2002) wechselt die Perspektive und bilanziert die Zwischenepoche, in der wir leben. Die politischen Regelungen, die historischen Kompromisse des Fordismus, die internationalen Regelwerke zerbrechen unter dem Druck der internationalen Finanzströme, und zwischen den Knoten der Weltwirtschaft überziehen neue weiße Flecken den Atlas: Zonen der Schwarzarbeit und der illegalen Migration, Inseln der Geldwäsche und kriminelle Spekulation, Privatisierung der Gewalt in Söldnerheeren und beim Giftmüll- und Drogenhandel, moderne "Sklaverei mit Handy und Helikopter". Die Weltgesellschaft tritt in eine "lange Zwischenphase der Informalität" ein, in "dunkle Jahrzehnte", wie Altvaters Kollege Wallerstein hinzufügt: "Wenn Sie in einem Strudel leben, sollten Sie zwei Dinge beachten. Erstens: Sie sollten wissen, an welches Ufer Sie schwimmen wollen. Und zweitens: Geben Sie acht, dass ihre nächsten Züge grob in diese Richtung zielen. Genauere Angaben gibt es nicht, und wenn Sie welche suchen, werden Sie höchstwahrscheinlich dabei ertrinken."

Damit ist der theoretische Status der heutigen Kritik der Politischen Ökonomie recht gut bezeichnet. In Altvaters Analysen werden drei Ufer sichtbar: ein "amerikanisches Jahrhundert", das Empire also; zweitens, "möglicherweise", wie er als Realist dazusetzt, der ökologische und zivilisatorische Kollaps; oder schließlich, und zur Zeit wenig wahrscheinlich, ein Wiedereinfangen der entfesselten Kapitalbewegung als Resultat politischer Aktion an den drei "archimedischen Punkten" des Systems: Arbeit, Geld, Natur. Konkret: Arbeitszeitverkürzung in den hochindustrialisierten Regionen, Regulierung der Finanzströme, Besteuerung des Naturverbrauchs, vor allem des Transports, und eine Re-Regionalisierung der Wirtschaftsräume. Und dazu gehört selbstverständlich auch die "Solare Revolution", der sanfte Übergang zur nachfossilen Gesellschaft, der so oder so kommen muss.

Altvater ist ein Moralist der Aufklärung und der theoretischen Arbeit, verpflichtbar, abrufbar bis zur gelegentlichen Erschöpfung. In seinen Proseminaren saßen zuletzt 300 Studenten. Mit "Kapital.doc" hat er eine Einführung in die kritische Ökonomie verfasst, die soviel Gründlichkeit wie nötig in so wenig Text wie heute noch möglich presst. Er ist ein Lehrer, der seine Studenten auch an seinen unerprobten und riskanten Gedanken teilhaben ließ, der keine Schule hervorgebracht hat, aber viele Schüler, die weitgespannte Forschungsvorhaben verfolgen, etwa zur ökonomischen Ökologie oder zur Theorie der Gewerkschaften. Und Elmar Altvater ist politischer Alltags-Arbeiter, ob nun in 30 Jahren Herausgeberschaft der Zeitschrift PROKLA, im Vorstand der taz, in der Grünen Akademie, im wissenschaftlichen Beirat von Attac, in Bundestags-Enquete-Kommissionen oder auf Podien bei den "fixen Jungs" des Neoliberalismus, die ihn als immerhin respektablen Vertreter einer extremen Position einladen, schließlich ist er gut angezogen.

Ein Theoretiker in unordentlicher Zeit muss stoisch sein, wenn er nicht zynisch werden will. Die archimedische Strategie - Verkürzung der Arbeitszeit, Unterbrechung der Stoffkreisläufe durch Besteuerung der Transporte, politische Regulierung der Finanzströme - wird von kleinen Gruppen, von Intellektuellen und Aktivisten propagiert, aber es gibt keine machtnahe politische Bewegung, die dieses Programm verfolgt, und die Sozialdemokraten werfen wieder einmal Ballast ab, strampeln im Strudel, ohne irgend ein Ufer im Blick. Die globale Zivilgesellschaft, so schreibt Altvater in defensivem Lakonismus, sei "eine zum Teil kitschige Vorstellung und dennoch außerordentlich ernst zu nehmen". Und das heißt: immer weiter die Ebenen der Wiederholung zu durchqueren, an der bürgerlichen Doppelung von Bourgeois und Citoyen festzuhalten, am politischen Kampf um das geringst mögliche Unglück der größten Zahl.

Gelehrsamkeit, Nüchternheit, Verpflichtung auf die Geschichte und das Gemeinwesen - das Bürgertum hat solche Typen hervorgebracht, und die Arbeiterbewegung kannte sie auch. Bürger Wissenschaftler - ein freundlicher, zurückhaltender großer Mann im grauen Anzug, Spandauer Stadtbürger mit Universalbibliothek, der es liebt, in die Fußnoten und Exkurse des strengen Diskurses ein Faust-Zitat oder eine zeitlose Warnung zu schmuggeln, die schon Platon ausgab, jemand von höchst kulinarischem Charakter, ohne dass die Raffinierung des Gaumens die Analysefähigkeit verflüssigt, U-Bahnfahrer, gelegentlich von Rückenschmerzen heimgesucht. Wenn er wieder einmal auf einem Podium erklärt, wie es so kommen musste, wie es kam, ist er achselzuckend analytisch. Zu seiner Kritik der Politischen Ökonomie gehören aber nicht nur die realen oder vermeintlichen Sachzwänge, sondern auch die Frauen, die an "overwork" sterben, die im Zuge der ursprünglichen Akkumulation gehängten Sozialfälle und skalpierten Indianer, die arbeitenden Kinder, die gemordeten Völker, die zerstörten Schönheiten, die gerodeten Wälder und sogar die hilflos überforderten Flexibilitätsapostel mit ihren bröckelnden Charaktermasken.

Ohne verhaltenen, aber dauerhaften Trotz kann auch der Theoretiker des Weltmarkts nicht auskommen: "Es muss doch einen humanen Anspruch geben, auf ein Stückchen Sicherheit, ein Stückchen Dauerhaftigkeit von Lebensformen und sozialen Beziehungen." Elmar Altvater ist im westfälischen Kamen geboren, als Sohn eines Bergmanns. Sein Buch über die Globalisierung der Unsicherheit endet mit dem Voltaireschen Bekenntnis zum Gartenbestellen. Kurz vor seinem 65. Geburtstag, den er an diesem Sonntag begeht, hat er eingewilligt, noch ein Jahr Lehre dranzuhängen.

Mathias Greffrath in: FREITAG 22.8.2003