"Kapital-Lektüre - die dritte Ökonomiekritik und radikale Philosophie von Joachim Bischoff und Christoph Lieber

Die Beschäftigung mit der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie hat ihre spezifischen geschichtlichen Konjunkturen. Nach einer Renaissance in den1960/70er Jahren trat sie in den folgenden beiden Jahrzehnten eher in den Hintergrund und geriet nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus erst recht in die Defensive. Mit der Ausbreitung des Finanzmarktkapitalismus seit Ende der 1990er Jahre intensiviert sich wieder die Beschäftigung mit der Marxschen Kapitalismusanalyse. Jetzt liegt eine erste Zwischenbilanz vor. In der Auseinandersetzung mit diesem Rück- und Ausblick hinterfragen Joachim Bischoff und Christoph Lieber auch den "philosophischen Zugriff" dieser neuen Kapital-Lektüre.

Unter dem Titel "Das Kapital neu lesen" und dem Untertitel "Beiträge zur radikalen Philosophie"1 stellen die Herausgeber Jan Hoff, Alexis Petrioli, Ingo Stützle und Frieder Otto Wolf dreizehn Aufsätze zur Marxschen Kritik der politischen Ökonomie zusammen. In fast der Hälfte der Beiträge werden Aspekte der Werttheorie und Wertformproblematik behandelt, im Wesentlichen fokussiert auf die ersten drei Kapitel des ersten Bandes des "Kapital"; in den anderen Aufsätzen werden die Geldware bei Marx, die Grenzen der dialektischen Darstellung, die feministische Auseinandersetzung mit der Kritik der politischen Ökonomie, die Geschichte der Kapitallektüre in Frankreich und den USA in das Zentrum gerückt; in einem Beitrag wird auf Marxens Behandlung des Linksricardianers und "proletarischen Gegensätzlers" Thomas Hodgskins (1787-1869) eingegangen. Die Intention der Herausgeber, "das Projekt"Kritik der politischen Ökonomie" als Baustelle" /360/ zu präsentieren, findet durchaus unsere Zustimmung; es ist wichtig, "die Pluralität aller marxistischen Positionen argumentativ zu entfalten, die sich den Herausforderungen einer radikalen marxistischen Selbstkritik stellen." /33/ Von einer selbstkritischen Bilanzierung können neue Impulse für den Aneignungsprozess der Kritik der politischen Ökonomie entstehen. Vor dem Hintergrund einer seit Mitte der 1990er Jahren erneut einsetzenden Beschäftigung mit Marxschen Texten, einer Anzahl neu publizierter Einführungen und Kommentare und nicht zuletzt auch des Ertrages der in der neuen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) fast komplett abgeschlossenen Edition aller "Kapital-Manuskripte" wird in dem vorliegenden Sammelband eine "Zwischenbilanz" dieser gegenwärtigen "Kapital-Lesebewegung" /12/ präsentiert. Drei große Phasen der Aneignung der Kritik der politischen Ökonomie werden unterschieden. Marx hatte nur einen Teil der Untersuchungen zur ökonomischen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft der Öffentlichkeit vorlegen können. Die erste Runde der Aneignung war also dadurch geprägt, dass erst nach und nach die weiteren Teile der Kritik der politischen Ökonomie und der vorangegangenen Studien zugänglich gemacht wurden. Die Herausgeber des Sammelbandes sehen wohl die heftigen Kontroversen über Akkumulation und Imperialismus, Krise und Fall der Profirate oder das Zusammenbruchgesetz, schließlich den Zusammenhang von Warenfetischismus und Geschichtsbewusstsein im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Diese Versuche der Aneignung und Weiterentwicklung ordnen sie insgesamt einer ersten Welle zu. Dabei markiert der von Korsch in den 1920er Jahren eröffnete Ansatz, die Prinzipien von historischem Materialismus und Dialektik auf die Marxsche Kapitalismustheorie selbst anzuwenden, in den Augen der Herausgeber noch keine neue Ebene in der Auseinandersetzung mit der Marxschen Kapitalismusanalyse. "Die wirkliche zweite Welle der Kapital-Lektüre setzte dann erst in den 1960er Jahren ein, nachdem die vom theoretischen Stalinismus bewirkte "Vertagung" der Krise des Marxismus nicht mehr funktionierte und daher eine Rückbesinnung auf die theoretischen Grundlagen erforderlich wurde." /39/ Diese Einteilung überzeugt nicht, da mit den Folgen der russischen Revolution und der Ausbildung eines staatssozialistischen Lagers eine geschichtliche Konstellation entstanden war, die für die marxistische Theorie und ihre Rezeption insgesamt neue Bedingungen geschaffen hatte. Der dritten Welle, die mit der so genannten neuen Marxlektüre der letzten Jahre einsetzte, rechnen die Herausgeber und Autoren sich selber zu. Positiv ist hervorzuheben, dass die Editoren selbst einen Beitrag zur Intensivierung der neuen Kapitallektüre leisten wollen, zumal der "grundlegend umgebaute akademische Betrieb ... diesem Interesse nur facettenhaft nachkommen kann". /13/ Aber die Herausgeber wollen es nicht einfach bei einem bloßen Zusammenstellen von Beiträgen bewenden lassen. Ihr Vorhaben ist ambitionierter, wie der Buchtitel schon anzeigt. Er spielt auf die Arbeit "Lire le Capital" von Louis Althusser und seiner Gruppe aus dem Jahr 1965 an, mit der damals die Intention "Zurück zu den Marxschen Quellen" eingelöst werden sollte. Diese Bezugnahme ist auch dadurch offenkundig, dass die "althusserianische Kapital-Lektüre" /14/ in Einleitung und ausführlicher Bibliographie einen eigenständigen Referenzpunkt darstellt und auch ein Beitrag der ""symptomalen Kapital-Lektüre" in Frankreich" /72ff./ gewidmet ist. Damit ordnen Hoff. u.a. diese Zwischenbilanz in einen historischen, zugleich aber auch politischen Zusammenhang ein. Denn mit ihrem "Beitrag zur radikalen Philosophie" wollen sie nicht unpolitisch sein, sondern sich ""ins Getümmel" wirklicher Auseinandersetzungen ihrer Zeit begeben" /7/ und zur "Selbstverständigung unserer Zeit über ihre Wünsche und Kämpfe" /8/ beitragen. Das ließe erwarten, dass der Bogen auch bis zu Beiträgen gespannt wird, in denen das zeitdiagnostische Potenzial der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie für den modernen Gegenwartskapitalismus geprüft wird,2 insbesondere bezogen auf veränderte Erscheinungsformen einer Finanzialisierung der gesellschaftlichen Betriebsweise des Kapitals und sozialstrukturellen Veränderungen der Lohnarbeit. Das ist nur bedingt der Fall. Zugleich wissen die Herausgeber, "welche Dogmatisierungen und welche Kurzschlüsse " /7/ sich gerade auf dem Feld der Kapital-Lektüre und des Marxismus in der Geschichte immer wieder breit gemacht haben. Daher gilt es bei einer "neuen Welle der Kapital-Rezeption im 21. Jahrhundert" /30/ möglichen "Missverständnissen " /30/ und "Ängsten" /31/ vorzubeugen. "Das Plädoyer für einen Neuansatz ist aber keineswegs auch ein Plädoyer für Amnesie oder für Ignoranz. Die bedeutenden Leistungen der beiden vorangegangenen großen Wellen der Kapital-Lektüre sind weiter in Erinnerung zu halten und kritisch aufzuarbeiten. Was aber keineswegs heißt, dass wir es bei ihrer Befangenheit in ihren ungedachten Voraussetzungen belassen können." /31/ Die "dritte Welle" der Kapital-Rezeption soll in den Augen der Autoren mithin auf einer reflektierteren neuen Grundlage stattfinden, was wiederum zu einer Problemdimension führt, "die wir bisher etwas künstlich ausgespart haben: zur Dimension des Politischen" /32/ - die sich oft im "Subtext" der Fußnoten zu Einleitung und Nachwort findet. Auch den Verfassern ist klar, dass die Rezeption des Marxschen Kapitals keine rein akademische Veranstaltung ist, sondern in die Geschichte der Arbeiterbewegung und des Kapitalismus eingebunden ist. Wie verorten Hoff u.a. diesen Zusammenhang, wie begründen sie Fehlentwicklungen, Sackgassen und das Scheitern der beiden ersten Wellen der Kapital-Rezeption und wo sehen sie für heute Auswege? Da diese Fragestellung Einleitung und Nachwort durchzieht und als Problemstellung den anderen Einzelbeiträgen mehr oder weniger deutlich unterliegt, wollen wir zunächst auf diesen Aspekt eingehen.

Zwei Wellen der Kapital-Lektüre

Die erste Welle fokussieren die Herausgeber auf Engels und Kautsky. Politisch konnte zwar bis zum Ersten Weltkrieg eine "Einheit von Marxismus und Sozialdemokratie" /39/ geschaffen werden, aber bezogen auf eine theoretisch anspruchsvolle Kapital-Rezeption transformierte der "Engelsismus" /53/ die Marxsche Theorie in eine "marxistische Weltanschauung" - das, was dann heutzutage Vertreter der "dritten Welle" wie Michael Heinrich, Robert Kurz u.a. in ihren Publikationen als "Weltanschauungsmarxismus" oder "Arbeiterbewegungsmarxismus " brandmarken. Ingo Elbe macht in seinem Beitrag "Zwischen Marx, Marxismus und Marxismen - Lesarten der Marxschen Theorie" /53-71/ für diese Mutation einmal mehr die Kapitalinterpretation von Engels verantwortlich, die letztlich auf ein "Dominantwerden der Ideologiegehalte im Marxschen Werk" /58/ hinauslief. Im "Szientismus" und "Evolutionismus " /54/ der Engelsschen Lesart würde die Marxsche Ideologiekritik an der bürgerlichen Nationalökonomie verwässert und so hinter die bei Marx erreichte Differenzierung "zwischen Wissenschaft und Philosophie" /360/ zurückfallen. Diese Logik einer Verflachung marxistischer Theorie - das Einebnen der Differenz von Marxens radikaler Philosophie und seiner wissenschaftlich theoretischen Ökonomiekritik auf eine weltanschaulich verformte "marxistische politische Ökonomie " /39/ - wird erst mit der "zweiten Welle" der Kapital-Rezeption seit den 1960er Jahren zum Problem und nach Überzeugung der Editoren erst von Althusser schließlich auf den Begriff gebracht: "Die von Althusser umrissene Aufgabe, Marx' eigene, eigentümlich radikale Philosophie nicht mehr vor allem aus Marx' spärlichen Selbstkommentierungen zusammenzusetzen, sondern sie aus dem zu rekonstruieren, was er wirklich "in der Philosophie tat", ist bis heute kaum verstanden worden... Die immer wieder neu zu leistende philosophische Artikulation "auf der Höhe der Zeit" und die Fortsetzung der von Marx angefangenen Untersuchungen zur kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Herrschaft in konkreten Gesellschaftsformationen werden dabei immer wieder nicht unterschieden - sodass es immer wieder zu einer ebenso unkontrollierten "Verphilosophierung" Marxscher Theorie wie zu einer "positivistischen", besser "szientistischen" Verkürzung3 kommt, die es dann beide etwa unmöglich machen, den offenen Dialog mit anderen gesellschaftskritischen Perspektiven artikuliert zu führen." /27/

Ohne selbst geprüft zu haben, ob diese Maxime in Althussers Projekt "Zurück zu Marx" wirklich funktioniert hat, übernehmen Hoff u.a. diese These, die im Text immer wieder argumentationsstrategisch als Allheilmittel gegen eine Verflachung der Kapital-Rezeption ins Feld geführt wird. Der Topos der "radikalen Philosophie" aus dem Untertitel der neuen Kapital-Lektüre ist mithin Programm: Durch "philosophische Artikulation " steht die dritte Kapital-Lesewelle auf reflektiertem Grund und muss auch die Problemdimension Politik nicht mehr ausgespart bleiben: "Erst im Zusammenspiel von kritischer Wissenschaft, kritischer Philosophie und kritischer Praxis werden emanzipatorische Initiativen denkbar, die realitätstüchtig sind, ohne im pragmatisch Machbaren aufzugehen." /361/

Als Arbeitsgrundlage kann die "Zwei-Wellen-Theorie" der Herausgeber akzeptiert werden. Allerdings: Bei genauerem Hinsehen erweist sich die Geschichte der Verflachung und Rekonstruktion der Kritik der politischen Ökonomie als komplizierter. Gefordert ist dabei - um mit der zweiten Welle der Kapital-Lektüre in den 1960er Jahre zu beginnen - nicht unbedingt eine ausführlichere Analyse der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen sich die Renaissance des Marxismus in jener Zeit abspielte: Spaltung der Arbeiterbewegung, Systemkonfrontation, Entstalinisierung als bloße Fassadenerneuerung, die theoretische Kultur in der Geschichte der französischen Arbeiterbewegung in jener Zeit, Antiimperialismus (Kuba, Vietnam), der Revisionismusstreit zwischen der Sowjetunion und der VR China, Prager Frühling, Eurokommunismus etc. - um nur einige der politischen und theoriestrategischen Referenzpunkte zu benennen, mit denen sich im Erneuerungsprozess des Marxismus auseinanderzusetzen war.4 Diese Stichworte werden auch in dem Überblicksbeitrag von Hoff u.a. mehr oder weniger explizit angesprochen. Es geht vielmehr um die Einordnung und Erklärung der ideologischen Tendenzen innerhalb des damaligen "Weltanschauungsmarxismus", mit denen sich das KPF-Mitglied Althusser konfrontiert sah und die ihrerseits selbst im Gewand philosophischer Artikulationen auftraten: "Diese ideologische Tendenz hat ihr theoretisches Anrecht in den Marxschen Jugendwerken gesucht, die tatsächlich alle Argumente einer Philosophie vom Menschen, seiner Entfremdung und seiner Befreiung enthalten. Diese Bedingungen haben in der marxistischen Philosophie eine paradoxe Umkehr der Situation hervorgerufen. Die Marxschen Jugendwerke, die seit den 1930er Jahren den kleinbürgerlichen Intellektuellen in ihrem Kampf gegen den Marxismus als Schlachtpferd dienten, sind nach und nach, schließlich massiv in den Dienst der neuen "Interpretation" des Marxismus gestellt worden, die heute (1965) von zahlreichen, durch den 20. Parteitag vom stalinistischen Dogmatismus "befreiten" kommunistischen Intellektuellen in aller Öffentlichkeit entwickelt wird."5

Philosophie und Ökonomiekritik

Damit stand Althusser vor einem sich aus der Sache selbst ergebenden Paradoxon: Der Schlüssel zur Überwindung der theoretischen Deformationen des Gegenwartsmarxismus lag in der Rekonstruktion des Bruchs von Marx mit den ideologischen Formationen seiner Zeit. Zur Entwicklung eines Auswegs aus dem aktuellen theoretisch-politischen Irrgarten mussten aus Althussers Sicht letztlich die Grundlagen der Marxschen wissenschaftlichen Gesellschaftskritik an der klassischen politischen Ökonomie wieder freigelegt werden. Das Programm "Zurück zu den Quellen" kam der Aufforderung gleich: "Lire le Capital!" Und dies erforderte, die Marxsche Differenz zur klassischen politischen Ökonomie klar angeben zu können. Aber hier hilft eine "philosophische Lektüre des "Kapital"" (Althusser) nicht viel weiter, sondern produziert einen Zirkel, den Althusser selbst einräumen muss. Denn es ist dabei eine wirklich kritische Kapital-Lektüre unterstellt, "die auf den Text von Marx bereits die Prinzipen der marxistischen Philosophie anwendet, die uns "Das Kapital" erst vermittelt. Somit erscheint es, als bilde diese kritische Lektüre einen Zirkel: Denn wir erschließen die marxistische Philosophie scheinbar aus ihrer Anwendung... Der scheinbare Zirkel sollte uns dabei nicht irritieren: Es ist der Zirkel, welcher jedem Prozess einer Erkenntnisproduktion inhärent ist."6

Die philosophische Artikulation, die auch von den Herausgebern von "Das Kapital neu lesen" als Topos einer "radikalen Philosophie" für die dritte Welle der Kapitallektüre propagiert wird, transformiert sich in eine Frage nach einer "Theorie der Erkenntnisproduktion" und landet schlussendlich bei einer neuen Spielart einer Wissenschaft vor der Wissenschaft. Die allgemeinsten Bestimmungen und einfachsten Abstraktionen aus der "Einleitung" der "Grundrisse", die Marx selber lediglich als "verständige Abstraktionen" gelten lässt und mit denen noch keine differentia specifica der bürgerlich-kapitalistischen Produktionsverhältnisse wirklich begriffen ist,7 markieren für Althusser schon den "epistemologischen Bruch" von Marx mit der klassischen Ökonomie. Dagegen werden in der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie selbst diese abstrakten Kategorien noch als ideologisch bestimmte eingestuft, die erst in einem geschichtlich bestimmten sozialen Denkprozess dechiffriert werden. Dieser Auseinandersetzungsprozess zeigt, "in welcher Form die Ökonomen teils sich selbst kritisieren, teils die historisch entscheidenden Formen, worin die Gesetze der politischen Ökonomie zuerst ausgesprochen und weiterentwickelt wurden." (MEW 26.1: 320) Im Marxschen Forschungs- und Darstellungsprozess - die von Hoff u.a. unter Berufung auf Althusser als "Marx' spärliche Selbstkommentierungen " /27/ als untauglich beiseitegeschoben und durch den methodischen Imperativ "Vom Kapital zu Marx' Philosophie" /ebd./ ersetzt werden - findet sich die These, dass der theoretische Ausgangspunkt der Wissenschaft von der ökonomischen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft in bestimmten gesellschaftlichen Zuständen und ihren verschiedenen Entwicklungsphasen selbst zu finden ist: "Nur dadurch, dass man an die Stelle der conflicting dogmas die conflicting facts und die realen Gegensätze stellt, die ihren verborgenen Hintergrund bilden, kann man die politische Ökonomie in eine positive Wissenschaft verwandeln." (MEW 32: 181)

Der Ausgangspunkt der zweiten Welle der Kapitallektüre, Althussers Vorhaben "Lire le Capital" von 1965, zeigt paradigmatisch, dass jeder ernstzunehmende Rekonstruktionsversuch der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie die Differenz zur klassischen politischen Ökonomie aufzeigen können muss. Das galt auch schon für die "erste Welle", der man wie im vorliegenden Band mit Bezugnahme auf ein bloßes Engels-Bashing nicht gerecht werden kann. Zu diesem ersten großen Rekonstruktionsversuch der Marxschen Theorie zählen ebenso die ökonomisch-politischen Gesamtanalysen in der Nachfolge der beiden Alten aus London, die die neuartigen Entwicklungstendenzen des Kapitalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts einzufangen suchten: Kautskys "Agrarfrage" (1899), Lenins "Entwicklung des Kapitalismus in Russland" (1899), Hilferdings "Finanzkapital" (1910) und Luxemburgs "Akkumulation des Kapitals" (1913). Auch hier finden sich unterschiedlich elaborierte Reflexionen auf die Differenz der Marxschen "Methode" zur klassischen politischen Ökonomie: "Es ist nun klar, weshalb Marx seine eigene ökonomische Lehre außerhalb der offiziellen Nationalökonomie gestellt, sie "eine Kritik der politischen Ökonomie" genannt hat. Die von Marx entwickelten Gesetze der kapitalistischen Anarchie und ihres zukünftigen Untergangs sind freilich selbst nur eine Fortsetzung der Nationalökonomie, wie sie von den bürgerlichen Gelehrten geschaffen worden ist, aber eine Fortsetzung, die sich in ihren Schlussergebnissen in schärfstem Gegensatz zu den Ausgangspunkten jener setzt. Die Marxsche Lehre ist ein Kind der bürgerlichen Ökonomie, aber ein Kind, dessen Geburt der Mutter das Leben gekostet hat. In der Marxschen Theorie hat die Nationalökonomie ihre Vollendung, aber auch ihren Abschluss als Wissenschaft gefunden."8

Sicherlich geben Luxemburg wie Althusser keine zufriedenstellende Antwort auf eine Grundfrage, die sich jeder erneuten Kapital-Lektüre aufdrängen muss: Wie ist die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie "zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition"9 zu verorten? Die Herausgeber des neuen Sammelbandes sprechen diesen Referenzpunkt selbst an und stellen eine Lösung in Aussicht. Zwar wird im vorliegenden Band "mit einer Ausnahme nicht eigens auf den Marxschen Forschungsprozess eingegangen, d.h. auf Marx' Auseinandersetzung mit den Quellen." /358/ Aber "zugleich würde die neue Kapital-Lektüre - an die Forschungsergebnisse der (in diesem Band von Ingo Elbe skizzierten) neuen Marx-Lektüre anknüpfend - über ein theoretisches Instrumentarium verfügen, mithilfe dessen endlich die Frage des theoretischen Verhältnisses von Marx zum vormarxschen ökonomietheoretischen Antikapitalismus geklärt werden kann. Dies ist ein Forschungsfeld, an dem sich einerseits die verschiedenen angelsächsischen Ansätze der "intellectual history" sowie andererseits eine sich nicht der Ergebnisse der Marx-Lektüre versichernde Kapital-Lektüre bisher "die Zähne ausgebissen" haben. Für die Erschließung dieses Forschungsfeldes haben wir jetzt das "theoretische Werkzeug" zur Hand. Es fehlt aber noch an der konsequenten Anwendung." /359/ Machen wir also die Probe aufs Exempel anhand der einen Ausnahme, die sich auf das Verhältnis der Marxschen Kritik zu einem Vertreter der politischen Ökonomie einlässt - der Beitrag des Mitherausgebers Jan Hoff über "Thomas Hodgskins Verteidigung der Arbeit und die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie". /287-302/

"Formanalyse" als Methode oder sozial bestimmter Denkprozess Der Band "Das Kapital neu lesen" lebt vom hohen Lied auf "das Verfahren der Ökonomiekritik als "Formentwicklung" oder "-analyse"" /64/ der ökonomischen Kategorien. Im Unterschied zu den früheren Verflachungen der Marxschen Ökonomiekritik glaubt man sich jetzt durch ein geschärftes Problembewusstsein in Sachen "Wertformanalyse" dank der so genannten neuen Marxlektüre auf der Höhe methodologischer Selbstreflexion und in der Lage, die "wissenschaftliche Revolution " von Marx gegenüber der "klassischen Tradition" - und damit die "Genesis der theoretischen Abstraktionen" (Marx) sowohl im System der Kritik der politischen Ökonomie wie bei den klassischen Ökonomen - im Unterschied zu früheren Kapital-Interpretationen begründen zu können. Zum gesicherten Fundus zählt: Die bürgerliche politische Ökonomie "erliegt den Selbstmystifikationen der kapitalistischen Objektwelt als Welt natürlicher Formen und entzieht diese damit prinzipiell (sic!) menschlicher Gestaltungs- und Veränderungskompetenz. " /64/ Diese These aus Ingo Elbes Beitrag über "Lesarten der Marxschen Theorie" findet sich dann auch bei Jan Hoffs Abhandlung zu Marxens Kritik an Hodgskin. Auch für Hodgskin wie andere Vertreter einer ""popular political economy" gilt, dass sie den eigentlichen Gegenstand ökonomischer Wissenschaft verfehlen: das Realsystem politische Ökonomie als ein Ganzes ökonomischer Kategorien." /295/ Hoff versteift sich auf die abschließende These, "dass zwischen Marx einerseits und andererseits den sog. ricardianischen Sozialisten inklusive des nicht-ricardianischen Antisozialisten in theoreticis ein Unterschied im Grundsätzlichen besteht. Das Gegenstands- und Methodenverständnis von Marx ist mit den Auffassungen der "ricardianischen Sozialisten" inkommensurabel." /298/ Wenn die Differenz zwischen der Genesis der theoretischen Abstraktionen bei Marx und der politischen Ökonomie so hermetisch gefasst wird, stehen Hoff, Elbe u.a. vor dem gleichen Problem wie die traditionelle ML-Lesart: Die Marxsche Kritik der ökonomischen Kategorien kann nur noch als Anwendung elaborierterer "methodologischer Grundlagen" /351/ und "theoretischer Werkzeuge" /359/ erklärt werden:10 als eine "philosophische Artikulation" à la Althusser und "radikale Philosophie" wie im vorliegenden Band oder als geniale "Verschmelzung " von drei ideengeschichtlichen Quellen (deutsche Philosophie, englische Ökonomie und französischer Sozialismus), wie die einschlägige Formel des Marxismus-Leninismus lautet.11

Eine solche Verselbständigung der Marxschen "Formanalyse " zu einer gegenüber der klassischen politischen Ökonomie bloß besseren "Methodologie", deren Genesis selbst im Dunkeln bleibt, resultiert aus der Verkennung der Qualität des Marxschen Forschungs- und Darstellungsprozesses als einer Einheit, in der Forschung und Darstellung permanent ineinander umschlagen. Die Darstellung in der "Kritik der politischen Ökonomie" erzeugt selbst den falschen Schein einer "Konstruktion a priori", ist aber selbst höchst voraussetzungsvolles Resultat eines sozial bestimmten Forschungs- und Denkprozesses in der politischen Ökonomie. Marx selbst stellt seine Analyse und Kritik ganz bewusst in diesen Zusammenhang. Seine Beschäftigung mit Hodgskin ist dafür ein schlagendes Beispiel, was von Hoff im vorliegenden Band völlig unter Wert verhandelt wird. Hoff ordnet Hodgskin innerhalb der Kritik der politischen Ökonomie zunächst richtig ein: "Die bedeutendste Rezeption der Schrift Verteidigung der Arbeit befindet sich im dritten Teil der Theorien über den Mehrwert. Marx verweist hier auf das Beweisziel Hodgskins, die Nichtproduktivität des Kapitals, und begreift dies als "nothwendige Consequenz der Ricardoschen Darstellung" (MEW 26.3: 262)." /293/ Aber was hier notwendige Konsequenz für den Forschungs- und Darstellungsprozess von Marx selbst bedeutet, bleibt unterbelichtet. Hodgskin löst zunächst "die surplus value in surplus labour" auf und bleibt somit nicht bei Ricardos "Verwechslung von surplus value und profit" (ebd.) stehen, sondern liefert mit einer solchen entwickelten Mehrwertauffassung selbst einen Baustein im sozialen Dechiffrierungsprozess der Kapitalmystifikation. Marx verweist darüberhinaus auf das differenzierte "intellektuelle soziale Feld" (Bourdieu), in dem sich dieser theoretische Entwicklungsprozess abspielt, und vergleicht Hodgskin mit verschiedenen früheren Vertretern des "proletarischen Gegensatzes". Hodgskins Schriften fallen in eine spätere Zeit, in ein entwickelteres Stadium der sozialen Antagonismen. Hier "erregten diese Schriften ... bedeutendes Aufsehen" (MEW 26.3: 259). In ihnen gibt Hodgskin den klassischen Ausdruck des proletarischen Gegensatzes gegen Ricardo. Die Konsequenzen, die frühere Vertreter in ihrer Polemik gegen die kapitalistische Produktionsweise aus den Erkenntnissen und Einsichten der klassischen Ökonomie ziehen, erfahren hier eine weitere Zuspitzung.12

Diese besteht bei Hodgskin darin, den spezifischen Formen der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung ihren verdinglichten Charakter zu nehmen und insbesondere das gesamtgesellschaftliche Fixkapital nicht bloß "als tote Masse" zu begreifen, "sondern als Lebendiges, (als) Geschick des Arbeiters, (als) Entwicklungsgrad der Arbeit ... das Subjektive im Subjekt ... Es ist dies das wahre Prius, das den Ausgangspunkt bildet, und dies Prius ist das Resultat eines Entwicklungsgangs. " (ebd.: 289) Dieses Prius, das auch eine alternative Ökonomie heute zu ihrem Ausgangspunkt nehmen kann und muss, besteht also in einer entwickelten Struktur des gesellschaftlichen Fixkapitals und der lebendigen Arbeitsvermögen, für die schon Marx ganz aktuell "increase of knowledge" und "extension of knowledge" (ebd.: 433) als Bedingung für jede Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Betriebsweisen einforderte. "Dieser Punkt mit der extension of knowledge wichtig. Akkumulation braucht daher keine neue Arbeit unmittelbar in Bewegung zu setzen, sondern braucht nur der alten andre Richtung zu geben." (ebd.: 434) Hier ist im Auflösungsprozess der Kapitalmystifikation eine gesellschaftsgeschichtliche Entwicklungstendenz angesprochen, die heute als erhöhte Subjektivität in der (Lohn-)Arbeit praktisch wahr wird. Damit erweist sich die Auseinandersetzung mit Hodgskin als wichtiger Schritt zu einem Knotenpunkt im sozialen Denk- und Dechiffrierungsprozess der politischen Ökonomie, den Marx dann bei Richard Jones wie folgt formuliert: "Wir sehen, wie die wirkliche Wissenschaft der politischen Ökonomie damit endet, die bürgerlichen Produktionsverhältnisse als bloß historische aufzufassen ... Durch ihre Analyse bricht die politische Ökonomie die scheinbar gegeneinander selbständigen Formen, worin der Reichtum erscheint ... Das Phantom der Güterwelt zerrinnt, und sie erscheint nur noch als beständig verschwindende und beständig wiedererzeugte Objektivierung der menschlichen Arbeit. Aller stofflich feste Reichtum ist nur vorübergehende Vergegenständlichung dieser gesellschaftlichen Arbeit..." (ebd.: 421)

Gerade in der Unzulänglichkeit, Einseitigkeit und Betonung des "Subjektiven" bei seiner Kapitalauffassung markiert Hodgskin einen Fortschritt im Fortgang der politischen Ökonomie, der Marx selber ein präziseres Verständnis des Systems gesellschaftlicher Arbeit ermöglicht. Diese Bedeutung im Marxschen Forschungsprozess bekommt Hoff nicht zu fassen, wenn er die Marxsche Kritik - Hodgskin habe "den Wert, den die Vergangenheit der Arbeit für ihre Gegenwart hat" (ebd.: 271), unterschätzt - für die ganze Wahrheit nimmt und resümiert, dass "Hodgskins Ahnung von der Kapitalmystifikation ... darin eine Grenze (hat), dass er sie als "rein subjektive Täuschung" auffasst." /294/ Dieser historisch spezifischen und sozial bestimmten Gedankenform wird letztlich kein substanzieller Beitrag zur Auflösung der Kapitalmystifikation zugestanden - "dies kann nur Marx selbst aufzeigen." /ebd./ Nach der Logik des Sammelbandes müsste an dieser Stelle die "radikale Philosophie" zum Einsatz im Marxschen Forschungsprozess kommen und den Erkenntnisfortschritt ermöglichen. Dies bleibt bei Hoff und auch in anderen Beiträgen Desiderat. Einmal mehr sieht sich der Leser einer prinzipiellen Erkenntnisschranke zwischen politischer Ökonomie und der Marxschen Kritik gegenüber: "Zwischen ... antikapitalistischer Theoriebildung ... Hodgskins ... und der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie besteht allerdings ein Unterschied im Grundsätzlichen." /288/ Eine solch prinzipielle These kann den immanenten Fortschritt im Marxschen Forschungs- und Darstellungsprozess durch die Abarbeitung an mystifizierten ökonomischen Strukturzusammenhängen in gleichzeitiger Auseinandersetzung mit theoretischen Anschauungen der Ökonomen nicht mehr erfassen. Gerade bedingt durch Hodgskins Überwindung einer bornierten Sichtweise auf die tote Arbeit kommt Marx selbst in der Erfassung des gesellschaftlichen Fixkapitals als "coexisting labour" einen entscheidenden Schritt weiter und kann endlich eine zentrale Mystifikation im gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozess enträtseln: das "Verschwinden " des konstanten Kapitals auf gesellschaftlicher Ebene und die Auflösung des Produktenwerts in bloße Revenuen. Dieses "Smithsche Dogma", ein Grundirrtum der gesamten klassischen politischen Ökonomie, dessen Nichtlösung Marx im Kapitalenturf von 1861-1863 bis zur Beschäftigung mit Hodgskins umtreibt, ist "geknackt". Dadurch können im Gesamtaufbau des Systems der Kritik der politischen Ökonomie unterschiedliche Anläufe und Fassungen des Gesamtreproduktionsprozesses des Kapitals korrigiert und zurecht gerückt werden und ist für Marx der Übergang zur Darstellung der Oberfläche der "trinitarischen Formel" und erst darüber ein wirklicher Fortschritt in der Formentwicklung und Formanalyse der Wertbestimmungen möglich. Eine solch immanente Problemsicht auf den Marxschen Forschungs- und Darstellungsprozess liegt jenseits der von Hoff u.a. präsentierten "Formanalyse" als Marxsche Methode.

Kapital-Lektüre und Klassenanalyse

Die Herausgeber sehen die Chance auf eine Erneuerung der inneren kritischen Dynamik der Marxschen Theorie. Es gibt - soviel dürfte nach den bisherigen Bemerkungen klar geworden sein - offenkundig nicht den Königsweg aus der Krise des Marxismus. Während die Herausgeber eher den Weg der Rekonstruktion einer kritischen oder radikalen Philosophie verfolgen, betonen andere, dass der entscheidende Referenzpunkt für eine theoretische Erneuerung die Erfassung der veränderten kapitalistischen Gesellschaft sein muss. Weil - wie schon Marx betonte - die bürgerliche Gesellschaft auch ihrer ökonomischen Struktur nach, aber erst recht unter dem Gesichtspunkt ihrer politisch-ideologischen Überbauten, kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozess der Umwandlung begriffener Organismus ist (MEW 23: 16), ergibt sich eine von dem philosophischen Zugriff unterschiedene Prioritätensetzung bei der Kapital-Lektüre. Schematisch lässt sich dies folgendermaßen umreißen:

1. eigentliches Ziel ist die theoretische Rekonstruktion des ökonomischen Bewegungsgesetzes der modernen bürgerlichen Gesellschaft; 2. ein wichtiger Zwischenschritt ist die Rekonstruktion der Marxschen Darstellung der ökonomischen Kategorien; 3. auf dieser Grundlage muss aber abgeklärt werden, ob sich die Weiterentwicklung des kapitalistischen Organismus mit der Marxschen Theorie begründen lässt;13 Bestandteil der Rekonstruktion ist der Zusammenhang von ökonomischem Bewegungsgesetz und den veränderten Erscheinungsformen.

Unter diesem Blickwinkel erscheint uns vor allem der Beitrag von Richard D. Wolff für eine Ausgestaltung der Baustelle der Kritik der politischen Ökonomie weiterführend. Seine These: "Die neue Kapital-Lektüre in den USA findet im Marxschen Hauptwerk ein neues Konzept von Klasse, das sich von denjenigen Klassenbegriffen unterscheidet, wie sie vor Marx und zu seinen Lebzeiten weit verbreitet waren." /129/ Bis in die Gegenwart - so Wolff - hält sich das Missverständnis, man könne unter Heranziehung der Kritik der politischen Ökonomie eine Einteilung der Bevölkerung vornehmen. Nach Wolff ist aber das entscheidende an der Kritik der politischen Ökonomie die Erfassung des Mehrprodukts oder der Surplusarbeit. "In allen Gesellschaften gibt es jemanden, der sich das Mehrprodukt zunächst aneignet und es dann an andere weiterverteilt. Produktion, Aneignung und Distribution des Mehrprodukts sind die klassenförmigen Prozesse jeder Gesellschaft. " /131/

Wolff knüpft an den zentralen Aspekt der Marxschen Theorie an: Marx schätzte seinen Beitrag zur Kritik der politischen Ökonomie so ein, dass er weder die Existenz der Klassen noch deren Kampf entdeckt habe. Bürgerliche Geschichtsschreiber - so Marx - hätten längst die historische Entwicklung des Klassenkampfes ausgesprochen und bürgerliche Ökonomie die Anatomie der Klassengesellschaft dargestellt (MEW 28/507). Für sich in Anspruch genommen hat Marx die systematische Darstellung des Zusammenhanges von ökonomischen Strukturen und sozialem Handeln. Marx hält über die Kritik der politischen Ökonomie fest: "Die Grundlage, der Ausgangspunkt der Physiologie des bürgerlichen Systems - des Begreifen seines inneren organischen Zusammenhanges und Lebensprozesses - ist die Bestimmung des Werts durch die Arbeitszeit." (MEW 26.2: 163) Die bestimmte ökonomische Gesellschaftsform als sich reproduzierenden und fortentwickelnden Prozess zu verstehen, unterstellt die Aneignung des materiellen Lebensprozesses. Hier darf man sich nicht an der Oberfläche verlieren, sondern muss in die Anatomie oder Physiologie der bürgerlichen Gesellschaft eindringen. Während an der Oberfläche die vorhandene Warenwelt mit ihren eigenständigen Reichtumsformen Lohnarbeit, Kapital und Grundrente in der Konkurrenz in einer Vielzahl von Marktprozessen erscheint, will Marx die verschiedenen Erscheinungsformen und die Bewegung an der Oberfläche ausgehend vom Wert und der sachlichen Erscheinungsform dieser gesellschaftlichen Arbeit als einen inneren organischen Zusammenhang rekonstruieren. Marx behauptet, dass auf dieser Grundlage der Erfassung der Anatomie und des erscheinenden Lebensprozesses an der Oberfläche zugleich ein Schlüssel für die Analyse der vorbürgerlichen Gesellschaftsformationen gefunden ist und "in der Ökonomie der geschichtliche Kampf und Entwicklungsprozess in seiner Wurzel aufgefasst wird." (Ebd.)

Im Zentrum der Darstellung von Marx steht zunächst die Mehrwerttheorie, die Auffassung des kapitalistischen Produktionsprozesses als Arbeits-, Verwertungs- und Ausbeutungsprozess. Die Erfassung des Ausbeutungszusammenhanges erfordert - gleichermaßen wie die von Marx entwickelte Darstellung - eine intensive begriffliche Anstrengung. Die Entwicklung eines gesellschaftlichen Mehrprodukts auf Grundlage von Surplusarbeit ist längst vor dem Kapitalismus ein gut belegtes historisches Faktum. Der Zwang zur Surplusarbeit - auf Grundlage einer völlig veränderten Dynamik der Bedürfnisentwicklung und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung - läuft auf die Schaffung von einem Überschussprodukt oder auf Entwicklung von frei verfügbarer Zeit für die Gesellschaft hinaus; dies ist eine andere Form des Zusammenhanges von Arbeit und Surplusarbeit als in früheren Produktionsweisen.

Wolff hebt auf diesen Grundgedanken ab, verlässt - so unsere Interpretation - dann aber den Gesichtspunkt der systematischen Rekonstruktion unter Einbeziehung der modernen Ausgestaltung des ökonomischen Bewegungsgesetzes. Er zieht aus der Verteilung vorschnell Schlussfolgerungen, die keine präzise Erfassung des neoliberalen, finanzmarktgetriebenen Kapitalismus zulassen. Seine weitere Argumentation: Die Verteilung des Mehrprodukts führe schließlich dazu, dass die Kapitalakkumulation nicht mehr der Imperativ der kapitalistischen Gesellschaft sei. "Folglich verliert die Kapitalakkumulation den Vorrang, der ihr in anderen Marxlektüren zugesprochen wird." /137/ Wir teilen die Überlegung, dass es darum gehen muss, aus der Kapital-Lektüre das ökonomische Bewegungsgesetz der bürgerlichen Gesellschaft zu rekonstruieren und eine realistische Klassenanalyse anzugehen. Die These, dass sich die Unternehmen seit den 1970er Jahren den Staat untergeordnet und seither eine destruktive Verteilung des Mehrprodukts in Gang gesetzt hätten, ist allerdings weder unter dem Gesichtspunkt einer Kapital-Lektüre noch als Analyse des modernen US-Kapitalismus durchzuhalten. "Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befinden sich die USA auf dem Gipfel der Prosperität in ihrer unternehmerkapitalistischen Klassenstruktur. Dies Prosperität erforderte aber den Zerfall der feudalen Klassenstruktur der US-amerikanischen Haushalte. Dieser Zerfall wirkt ... auf den US-amerikanischen Unternehmerkapitalismus zurück." /140/ Sowohl die theoretische Begründung als auch die empirischen Einschätzungen werfen etliche Frage auf. Es ist u.E. vorschnell, Veränderungen in der Proportionierung von produktiver und unproduktiver Arbeit unterm Kapital, Formen eines finanzmarktgetriebenen Akkumulationsprozesses, rückwirkende "Vermögenseffekte" und das Umkippen in parasitäre Strukturen im Kreditüberbau vorschnell vor der Kontrastfolie einer (Re)Feudalisierung des modernen Kapitalismus zu diskutieren. Auch hier gilt es, diese veränderten Erscheinungsformen der Kapitalakkumulation formationstheoretisch mit den Grundstrukturen der gesellschaftlichen Betriebsweise des Kapitals aus der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie zu vermitteln. Immerhin kann dieser Weg bei kritisch-selbstkritischer Auseinandersetzung über die Reproduktionsstrukturen des modernen Kapitalismus auch ein Weg zur Überwindung der Krise des Marxismus ein.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber, Christoph Lieber Redakteur von Sozialismus.

1 Münster 2006, 370 Seiten. Angaben in // aus diesem Text. Einleitung /10-51/, Nachwort /351-366/.
2 Schließlich ist nach Marx' eigenem Bekunden "der letzte Endzweck" des "Kapital", "das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen." (Karl Marx, Das Kapital. Erster Band, MEW, Bd. 23, S. 15). Im Folgenden werden die Marx-Engels-Werke (Berlin 1957ff.) als MEW mit Band-/Seitenangabe zitiert.
3 So die Mainstream-Kritik an der Engelsschen "Verflachung" im vorliegenden Band.
4 Vgl. dazu J. Bischoff, Renaissance des Marxismus und die Bewegung von '68, in: Sozialismus 7-8/1988.
5 L. Althusser, Für Marx, Frankfurt a.M. 1968, S. 8.
6 L. Althusser/E. Balibar, Das Kapital lesen, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 95f.
7 Vgl. dazu J. Bischoff/C. Lieber, Der Begriff des "Werts" in der Kritik der politischen Ökonomie. Zum Zusammenhang von anfänglicher Wertbestimmung, Epochentheorie und Kapital in den "Grundrissen", MS 2007. Erscheint in: Marcello Musto (Ed.), Karl Marx' Grundrisse: Foundations of the Critique of Political Economy, Routledge (UK) 2007.
8 R. Luxemburg, Einführung in die Nationalökonomie, hrsg. v. P. Levi, 1925., S. 76f.
9 So der Untertitel von M. Heinrichs Buch, Die Wissenschaft vom Wert (1991/1999), einer der Protagonisten der "neuen Marxlektüre". Zu seiner neusten "Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie" (2004) vgl. die Auseinandersetzung in Sozialismus 1/2005.
10 "Nach dieser Vorstellung habe Ich Begriffe und den Begriff, wie ich auch einen Rock, Farbe und andere äußerliche Eigenschaften habe." (Hegel, Wissenschaft der Logik, Werke Bd. 6, Frankfurt a.M. 1969, S. 254) Karikatur: Economist
11 Pikanterweise eröffnet Hoff seinen Beitrag zu Marxens Kritik an Hodgskin mit eben dieser ML-Formel, ohne sie weiter zu problematisieren.
12 Marx liefert also selbst schon eine Art "intellectual history" für den "vormarxschen ökonomietheoretischen Antikapitalismus", was die Herausgeber als Forschungsfeld selbst einfordern. /vgl. 358/
13 Unseres Erachtens gehört eine solche Entwicklungsdynamik selbst zum allgemeinen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise. Sie stellt eine sich ständig weiter entwickelnde Totalität dar und alle Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie tragen historische Spuren, auch in dem Sinne, dass ihre Bestimmungen erst im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung "praktisch wahr" werden. Eine solche Sichtweise auf die Entwicklungsdynamik des Kapitalismus hat Marx von Anfang an für die Kritik der politischen Ökonomie methodisch fruchtbar gemacht. Die Entwicklung des Kapitalismus als organischem System "zur Totalität besteht eben darin, alle Elemente der Gesellschaft sich unterzuordnen, oder die ihm noch fehlenden Organe aus ihr heraus zu schaffen. Es wird so historisch zur Totalität. Das Werden zu dieser Totalität bildet ein Moment seines Prozesses, seiner Entwicklung." (Marx, Grundrisse, S. 189)


aus: "Sozialismus" 2007