Mathias Greffrath in: DIE ZEIT

Altvater, Elmar. Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen

Eine Revolutionstheorie für das 21. Jahrhundert

Globalisierungskritik ist zum Gemeinplatz geworden. Aber unbeeindruckt von Zahlen, predigen "Reformer" und ihre Ökonomen "freie" Weltmärkte, Deregulierung, Privatisierung, unbeirrbar im Glauben an Wachstum als Lösung aller Weltprobleme. Seit dreißig Jahren widerlegen Weltmarktkrisen und Überflussbevölkerungen, gigantische Kapitalkonzentrationen und Klimawandel das Dogma, aber es fehlt ein konsistentes Fundament für eine realistische Alternative. Hier setzt Elmar Altvaters neues Buch ein. Luzide und mit Leidenschaft geschrieben, vereint es historische, ökonomische, soziale und ökologische Dimensionen der Übergangskrise, an deren Anfang wir stehen.

Vor der Suche nach Alternativen steht die Kritik an der "autistischen" Orthodoxie der reinen "Marktwirtschaft". Altvater dechiffriert sie als den geistigen Überbau des Shareholder- und Finanzkapitalismus unserer Tage. "Befreit" von politischen Beschränkungen, diktieren die flüssigen Überschusskapitalien - die Schätzungen gehen von 40 bis 80 Billionen Dollar - der Realwirtschaft weltweit Renditen, wie sie nur in den Ausnahmezeiten außerordentlich steigender Produktivität erzielt wurden. Ein globales Geldimperium sitzt wie ein Vampir über den Produktionsgesellschaften.

Die Folge sind Sozialabbau, Privatisierung öffentlicher Güter, Sinken der staatlichen und mittelständigen Investitionskraft, Raubbau an Menschen und Natur. Mögen selbst Großspekulanten es inzwischen beklagen: Das globale System schein selbstläufig geworden zu sein. Und die weltweiten, aber disparaten Demonstrationen der "Überflüssigen" und Sozialstaatsverteidiger für "eine andere Welt" sind wenig mehr als der ohnmächtige Begleitchor einer multitude von Opfern ohne politische Repräsentation.

Ist die Frage nach Alternativen also obsolet geworden? Zu Krisen und Opposition muss, argumentiert Altvater mit Fernand Braudel, ein "äußerer Stoß von extremer Heftigkeit im Verein mit einer glaubwürdigen Alternative" kommen, damit eine neue Produktionsweise möglich wird. Dieser Stoß ist die Erschöpfung der fossilen Energien. In diesem Jahrzehnt hat die Welt-Ölförderung ihren Höhepunkt überschritten. Der Kampf um billiges Öl - und bald um Öl überhaupt - führt schon jetzt zu Kriegen, füttert den Terrorismus und stürzt die Schwellenländer in Schuldenkrisen.

Ein hoch konzentrierter Kapitalismus aber muss - so zitiert Altvater die Strategen der EZB - die steigenden Energiekosten auf die große Masse der Bevölkerung umwälzen, um das Wachstum der Global Player zu sichern. Das führt zu Lohnsenkungen und Sozialstaatsabbau, in anderen Weltgegenden zu absoluter Verarmung und einer Destabilisierung ganzer Gesellschaften. Allein die atomare Option würde einen Fortbestand der kapitalistischen Wirtschaft sichern - auf Zeit und mit unkalkulierbaren Kosten für Menschen und Natur.

Zukunftspolitik muss deshalb vor allem an "Alternativen zum fossilen Energieregime arbeiten, bereits heute oder allerspätestens morgen". Die solare Wende ist unvermeidlich, aber die Widerstände sind beträchtlich. Denn die Energien der Zukunft sind - "höchstwahrscheinlich", sagt Altvater vorsichtig - nicht mit der kapitalistischen Form kongruent. Sie kommen ohne die zentralisierten langen Ketten und Netzwerke der hoch konzentrierten Energiewirtschaft aus, fordern regionale Energieautonomie, dezentrale Wirtschaftsstrukturen und eine Verkürzung der Transportstrecken - kurz: die Deglobalisierung vieler Wirtschaftsaktivitäten.

Not tut deshalb eine Renaissance der Politik. Denn ein nachhaltiges Energieregime, der Aufbau neuer Infrastrukturen, die Re-Regionalisierung der Landwirtschaft - das alles sind "gesamtgesellschaftliche Aufgaben", die "eine Vielfalt von öffentlichen Gütern auf lokaler, nationaler und globaler Ebene" erfordern. Und damit einen initiierten, investierenden und steuersouveränen Staat, der sie gegen die Kräfte des Beharrens durchsetzt.

Altvaters Buch ist nichts weniger als eine Revolutionstheorie für das 21. Jahrhundert. Die solare Revolution - lächerlich? Wohl nur, wenn man Revolutionen als politische Haupt- und Staatsaktion begreift und nicht als die "stillere, aber darum nicht minder gewaltige Umwälzung" der Produktivkräfte. Mit Kohle, Dampf und Werkzeugmaschinen sprengten die Bürger feudale Macht, eröffneten die Chance der Demokratie.

Auch die Energien des nachfossilen Zeitalters müssen von Bürgern befreit werden, damit sie zum Hebel neuerlicher Befreiung werden - und deshalb setzt dieses Buch, wie jede starke Theorie, seine Leser unter existenziellen Druck.

DIE ZEIT, 21. Dezember 2015

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