Widersprüche Heft 162

Alltag - Alltagspraxis - Alltagstheorien

Die Auseinandersetzung mit Alltag und Alltäglichkeit ist konfrontiert mit einem grundlegenden Spannungsverhältnis: Stellt der Alltag den Ort gesellschaftlicher Veränderungsprozesse dar oder einen Hort der Verweigerung jeder Transformation? Dieses Spannungsverhältnis wurde alltagstheoretisch ganz unterschiedlich bearbeitet und hat zu unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Reaktionen geführt. Während ethnografische Zugänge oder lebensweltorientierte Konzepte zu einer ‚Verselbstverständlichung' alltagstheoretischer Perspektiven geführt haben, war die jüngere Vergangenheit eher von einer Dethematisierung von Alltag und Alltäglichkeit geprägt. Diese Gleichzeitigkeit von Selbstverständlichkeit und Stillstand wird in jüngster Zeit durch eine neue Auseinandersetzung, u.a. im Bereich der Literatur, durchbrochen: Von Perec, Ernaux, Eribon und Louis in der französischen Belletristik bis zu jüngsten deutschsprachigen Arbeiten von Mayr, Acar, Oskamp oder Güngör gelingt eine Sensibilisierung für gesellschaftliche Verhältnisse und deren Wirkungen – im Alltag der Menschen. An dieser sensibilisierenden Perspektive setzt das Schwerpunktheft der Widersprüche an und möchte das Potenzial einer alltagstheoretischen Perspektive ebenso ausleuchten und diskutieren wie die gesellschaftstheoretischen und -analytischen Möglichkeiten einer Reflexion von Alltagspraxis und Alltäglichkeit – gerade auch in institutionalisierten Kontexten.

Über die Widersprüche

Widersprüche: Zeitschrift fur sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich

Gesellschaft als „Diskurs der Wünsche” meint das Verfertigen des Sozialen im Prozess des sozialen Diskurses, nicht Unterwerfung unter vorgefertigte Normierungen.
(Niko Diemer, 1952 - 1992)


1981/82 gründeten Mitglieder der Arbeitsfelder Gesundheit, Sozialarbeit und Schule des Sozialistischen Büros die Zeitschrift Widersprüche. In dieser Zeit des grünen Aufbruchs und der radikalisierten konservativen Wende versuchten sie eine erste Standortbestimmung als Redaktionskollektiv: „Verteidigen, kritisieren, überwinden zugleich”. Unter dieser Programmatik wollten sie als Opposition dazu beitragen, die materiellen Errungenschaften des Bildungs- und Sozialbereichs zu verteidigen, dessen hegemoniale Funktion zu kritisieren und Konzepte zu ihrer Überwindung zu konkretisieren. Zur Überzeugung gelangt, dass eine alternative Sozialpolitik weder politisch noch theoretisch ausreichend für eine sozialistische Perspektive im Bildungs- und Sozialbereich ist, formulierten sie den ersten Versuch einer Alternative zur Sozialpolitik als Überlegungen zu einer „Politik des Sozialen”. An der Präzisierung dieses Begriffes, an seiner theoretischen und politischen Vertiefung arbeiteten sie, als die Frage nach der „Zukunft des Sozialismus nach dem Verschwinden des realen” 1989 auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Das Kenntlichmachen der „sozialen Marktwirtschaft” als modernisiertem Kapitalismus im Westen und Kapitalismus „pur” im Osten erleichtert zwar die Analyse, gibt aber immer noch keine Antwort auf die Frage nach den Subjekten und Akteuren einer Politik des Sozialen, nach Kooperationen und Assoziationen, in denen „die Bedingung der Freiheit des einzelnen die Bedingung der Freiheit aller ist” (Kommunistisches Manifest).
Wer in diesem Diskurs der Redaktion mitstreiten will, ist herzlich eingeladen.